Karagiannidis zu Corona "Gute Situation, um Maßnahmen zurückzufahren"
Die Corona-Infektionszahlen sinken, auch andere Infektionswellen klingen ab. Deshalb sei die Situation jetzt günstig, um die Schutzmaßnahmen aufzuheben, sagt Intensivmediziner Karagiannidis.
tagesschau.de: Ist das jetzt der richtige Zeitpunkt, alle Maßnahmen fallen zu lassen?
Christian Karagiannidis: Ja, wir haben eine wirklich günstige Situation, die wir so nicht erwartet hatten. Dadurch, dass wir vor Weihnachten so eine extrem starke Infektionswelle hatten, die geprägt war vor allen Dingen durch die Influenza, durch RSV, auch bei den Kindern, und zum Teil auch durch Corona, haben wir jetzt am Anfang des Jahres eine deutlich bessere Situation.
Wir sehen zum Beispiel im Abwasser-Monitoring, dass die Zahlen der Corona-Infektion parallel zu den Inzidenzen deutlich nach unten gegangen sind. Wir haben deutlich weniger Neuaufnahmen in den Krankenhäusern mit Influenza oder RSV, sodass ich glaube, dass es - auch wenn es vielleicht Zufall ist - jetzt wirklich eine gute Situation ist, um die Maßnahmen zurückzufahren.
Christian Karagiannidis ist Facharzt für Innere Medizin, Pneumologie und Intensivmedizin und Leiter des ECMO-Zentrums an der Lungenklinik Köln-Merheim. Außerdem hat er an der Universität Witten/Herdecke eine Professur für extrakorporale Lungenersatzverfahren. Er war Mitglied im Corona Expertenrat der Bundesregierung und arbeitet aktuell in der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung.
Gute Immunitätslage in der Bevölkerung
tagesschau.de: Ist es denn wirklich richtig, alle Maßnahmen auf einmal fallen zu lassen - also die Isolationspflicht und auch die Maskenpflicht?
Karagiannidis: Wir müssen ganz grundsätzlich unterscheiden: Wofür sind die Maßnahmen da und wie sind sie auch gesetzlich begründet? Die Maskenpflicht und die Isolation bezieht sich alleine auf Covid-19 und nicht auf andere Infektionserkrankungen. Und da wir bei Covid eine wirklich gute Immunitätslage in der Bevölkerung und niedrige Infektionszahlen im Moment haben, ist es auch gerechtfertigt, dass man diese Maßnahmen zurücknimmt.
Das bedeutet aber nicht, dass man sich nicht selbst schützen kann. Ich zum Beispiel mache es so, dass wenn ich merke, dass im Flugzeug oder nun auch in der Bahn, viele Menschen um mich herum sind die schniefen, die viel niesen und husten müssen, dann setze ich mir meine Maske auf, allein aus Selbstschutz. Und ich glaube, das ist eine gute Maßnahme, die wir noch fortführen sollten. Zumindest so bis zwei Wochen über Karneval hinaus.
Krankenhäuser nicht mehr so belastet
tagesschau.de: Wenn Sie einen Blick auf die Belegung in den Krankenhäusern werfen, was ist da im Moment die aktuelle Situation?
Karagiannidis: Wir hatten ungewöhnlicherweise in dieser Saison sehr frühzeitig eine Grippewelle, die parallel zur sogenannten RS-Virus-Welle gelaufen ist. Das ist etwas, was wir so in den Jahren vorher nicht in dieser Ausprägung gesehen haben. Wir hatten das große Glück, dass wir sehr wenige schwere Grippefälle hatten, also die H1N1-Fälle, was man auch als Schweinegrippe kennt, war in diesem Jahr wirklich eine absolute Rarität.
Deswegen sind die Kliniken nicht so extrem übergelaufen, wie es im schlimmsten Fall hätte sein können. Obwohl wir insbesondere im Dezember für einige Wochen wirklich eine sehr starke Belastung hatten, die jetzt aber wieder rückläufig ist. Wir haben deutschlandweit zum Beispiel im Schnitt etwa zehn Prozent freie Intensivbetten, was vor Weihnachten doch deutlich geringer war.
Krankheitslast geht zurück
tagesschau.de: Würden Sie demnach sagen, die Pandemie ist vorbei?
Karagiannidis: Pandemie ist ja ein Begriff, der davon geprägt ist, wie sich ein Virus weltweit ausbreitet. Und am Ende muss die WHO sagen, wann die Pandemie wirklich zu Ende ist. Ich würde eher darauf schauen, wie die Krankheitslast ist, die ausgelöst ist durch Covid und andere Infektionserkrankungen.
Und da ist es glücklicherweise so, dass die Krankheitslast, zumindest was die Krankenhäuser betrifft, so stark zurückgegangen ist, dass sich diese Erkrankung jetzt einreiht in das, was wir auch prä-pandemisch mit der Influenza oder mit dem RS-Virus hatten. Das heißt: nicht ungefährlich für Risikogruppen, aber bei weitem nicht mehr das, was wir in der Pandemie gesehen haben.
tagesschau.de: Diese drei Jahre haben uns ja auch gezeigt, wo die Schwachstellen in unserer Krankenhauslandschaft liegen. Was haben Sie als Intensivmediziner gesehen?
Karagiannidis: Wir haben ein paar Sachen gut gemacht, wie zum Beispiel die Kapazitätserfassung über das DIVI-Intensivregister. Die Pandemie hat aber auch dazu geführt, dass wir noch mal deutlich weniger Pflegepersonal am Bett haben. Und sie hat auch offengelegt, dass wir extreme strukturelle Defizite im deutschen Krankenhauswesen haben, was unter anderem darin begründet liegt, dass wir sehr breit verstreut extrem viele Krankenhäuser haben, dass wir aber nur relativ wenige Krankenhäuser haben, die an einem Standort auch wirklich alles anbieten, insbesondere Intensivmedizin, wo man alles machen kann.
Und das ist ein strukturelles Defizit, was sich hier in Deutschland in den letzten 20 bis 30 Jahren aufgebaut und auch zementiert hat, was wir jetzt unbedingt auflösen müssen. Denn die nächsten Gesundheitskrisen, auch die nächsten Pandemien werden wir erleben und dafür müssen wir besser aufgestellt sein, als wir es im Moment sind.
500 bis 600 große Zentren
tagesschau.de: Das heißt, was wäre jetzt nötig? Wie kann man dieses Problem lösen?
Karagiannidis: Wir haben mit der Regierungskommission einen Vorschlag unterbreitet, wie wir die Krankenhäuser in Deutschland neu strukturieren würden. Es kommt uns stark darauf an, dass wir weiterhin eine sehr gute Versorgung in der Breite haben, das heißt wirklich auch wohnortnah eine Basisversorgung haben. Dass wir aber gerade wenn es dann schwerere Erkrankungen sind - und das betrifft jetzt nicht nur Erkrankungen wie Covid, sondern es betrifft auch Krebserkrankungen und andere schwere Erkrankungen - viel mehr zentrieren müssen.
Und da müssen wir daran arbeiten, dass wir am Ende in Deutschland so etwa 500 bis 600 Krankenhäuser haben, die wirklich viel anbieten können, wo ich eine qualitativ hochwertige Versorgung habe. Und ich glaube, damit sind wir dann auch robust aufgestellt. Aber dieser Prozess ist schwer und wir müssen ihn mit einer enormen Geschwindigkeit angehen, weil uns die Zeit davonläuft. Wir merken es ja überall, Stichwort Personalmangel. Die Zeit ist jetzt so weit fortgeschritten, dass wir sehr schnell handeln müssen.
Krankenhäuser müssen zusammenarbeiten
tagesschau.de: Nun gibt es ja eine Besonderheit in Deutschland, nämlich dass Krankenhäuser privatisiert sind. Und dazu haben wir einige in kirchlicher Trägerschaft und einige in kommunaler Trägerschaft. Wie soll das funktionieren?
Karagiannidis: Wir sehen das erste Mal in diesem heterogenen Umfeld seit etwa ein bis zwei Jahren, dass die Träger jetzt auch übergreifend erkannt haben, dass es so einfach nicht mehr weitergehen kann. Ich will nur mal als Beispiel sagen, dass wir im Moment damit rechnen, dass etwa 60 Prozent der Kliniken rote Zahlen schreiben. Es wird ein substanzieller Teil auch wirklich insolvenzgefährdet sein, weil einfach Energiekosten gestiegen sind, Löhne gestiegen sind, weil wir nicht mehr so viele Fälle erbringen können. Und das führt die Träger jetzt dazu, zusammenzuarbeiten.
Und ich würde das wirklich noch mal unterstreichen und die auch noch mal ermuntern, Träger-übergreifend jetzt zu denken: Es geht um die regionale Versorgung und die muss in Zukunft unabhängig werden von Trägern. Und dann muss es möglich sein, dass die kommunalen Krankenhäuser mit kirchlichen Häusern zusammenarbeiten, sich beispielsweise zusammentun in einem Neubau. Das schulden wir ein Stück weit unserer Bevölkerung.
Grundlegende Reform binnen drei Jahren
tagesschau.de: Wie viel Zeit haben wir denn noch?
Karagiannidis: Wir haben einen demografischen Wandel vor uns in den nächsten zehn Jahren, der bedeutet, dass wir jetzt etwa eine halbe Million Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer pro Jahr verlieren werden - und die nicht nachbesetzt werden. Vorausgesetzt, wir kriegen nicht eine immense Migrationswelle, was ich im Moment so nicht sehe in Deutschland.
Das bedeutet, Innerhalb von zehn Jahren fehlen uns mindestens fünf Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die uns nicht mehr als Arbeitskräfte zur Verfügung stehen und die auch nicht mehr in dem Maße in die Krankenversicherung einzahlen. Das heißt dieser demografische Wandel, der jetzt einsetzt, wird das ganze System so stark unter Druck setzen, dass wir gezwungen sind, die nächsten zwei bis drei Jahre zu nutzen, um das System grundlegend zu reformieren. Dann bin ich aber optimistisch, dass wir 2030 flächendeckend in Deutschland eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung hinbekommen werden.
Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung redigiert und gekürzt.