Laboruntersuchung

Medizin Seltene Krankheiten - wenig Forschung

Stand: 15.10.2022 06:49 Uhr

Schätzungen zufolge leiden vier Millionen Menschen in Deutschland an einer seltenen Krankheit. Ihr Problem: Zur jeweiligen Krankheit gibt es meist nur wenig Forschung und wenige Therapien. Wo finden Betroffene dennoch Hilfe?

Von Thomas Hillebrandt, Lilly Zerbst und Ralf Kölbel, SWR

Schätzungen zufolge leiden vier Millionen Menschen in Deutschland an einer seltenen Krankheit. Ihr Problem: Zur jeweiligen Krankheit gibt es meist nur wenig Forschung und wenige Therapien. Wo finden Betroffene dennoch Hilfe?

Was sind "seltene Krankheiten"?

Seltene Krankheiten haben eines gemeinsam: Es gibt nur wenig Fälle auf 10.000, 100.000 oder gar eine Million Menschen. In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind.

Für die Betroffenen und ihre Angehörigen heißt das: Sie müssen beständig gegen die Statistik kämpfen und erleben, dass die medizinische Forschung auf den jeweils so kleinen Gebieten nur schleppend vorankommt.

Wie viele Menschen sind von seltenen Krankheiten betroffen?

In Deutschland leiden Schätzungen zufolge ungefähr vier Millionen Menschen unter einer seltenen Erkrankung. In der gesamten EU sind es etwa 30 Millionen Betroffene und weltweit etwa 300 Millionen.

"Fünf bis sechs Prozent aus der Bevölkerung haben eine seltene Erkrankung und diese Krankheiten sind sehr schwer. Es ist eine hohe Krankheitslast für die einzelnen Familien, aber auch für das Gesundheitssystem", sagt Professor Georg Friedrich Hoffmann, Direktor der Kinderklinik Heidelberg.

Hinzu kommt, dass die Betroffenen einer speziellen seltenen Krankheit meist räumlich weit verteilt sind. Expertinnen und Experten gibt es jeweils nur wenige und die sind nicht selten weit voneinander entfernt, was die Versorgung und Behandlung erschwert.

Wie viele und welche seltenen Krankheiten gibt es?

Aktuell sind bis zu 8.000 seltene Krankheiten bekannt. Pro Jahr werden etwa 250 neue Seltene Erkrankungen entdeckt. Das Spektrum seltener Erkrankungen ist breit. Doch es gibt Gemeinsamkeiten: Rund 80 Prozent sind angeboren, also genetisch bedingt oder mitbedingt. Die meisten verlaufen chronisch, mit schweren Einschränkungen in der Lebensqualität und deutlich verkürzter Lebenserwartung.

Seltene Krankheiten sind in jedem bekannten Krankheitsfeld vertreten. Sie reichen vom Albinismus aus der Gruppe der Stoffwechselerkrankungen, dem Asperger-Syndrom, dem Tourette-Syndrom, bis hin zur Zystischen Fibrose, auch Mukoviszidose genannt. Letztere zählt mit etwa 8.000 Fällen in Deutschland zu den relativ häufigen Seltenen Erkrankungen.

Welche Forschung gibt es zu seltenen Krankheiten?

Die jeweils geringe Zahl an Betroffenen mit einer bestimmten Seltenen Erkrankung erschwert die Durchführung von Studien. Und es gibt wenig Expertinnen und Experten, die die Erkrankung erforschen. Dies führt oft dazu, dass sich die Betroffenen mit ihrer Erkrankung allein gelassen fühlen. Nicht ohne Grund werden Menschen mit seltenen Krankheiten auch als "Waisen der Medizin" bezeichnet. Medikamente für Seltene Erkrankungen nennt man dementsprechend "Orphan Drugs".

Öffentlich wird die Erforschung Seltener Erkrankungen wenig gefördert. Es existieren verschiedene Fördertöpfe der EU, um die sich allerdings alle Forscher Seltener Erkrankungen streiten müssen. Die Erforschung dieser Erkrankungen ist daher in hohem Maße auf Spenden und auf besonders engagierte Familien angewiesen, die diese Spenden einholen.

Der Fortschritt ist entsprechend langsam und der Pool an engagierten, interessierten Forschern und Forscherinnen verhältnismäßig klein. Zu wenige Personen müssen zu viele Patienten mit den verschiedensten Erkrankungen begleiten. Hinzu kommt: Unter Kinder- und Hausärzten sind die Erkrankungen oft unbekannt. Die wahren Experten im Alltag sind meist Eltern und Angehörige selbst.

Was weiß man über die Ursachen Seltener Erkrankungen?

Die Gruppe Seltener Erkrankungen ist sehr durchmischt. Daher gibt es auch ganz verschiedene Ursachen. Bei genetisch bedingten Erkrankungen sind es häufig Mutationen in der Erbanlage oder Veränderungen von Chromosomen, die meist bereits ab der Geburt oder im Kindsalter symptomatisch werden. In vielen Fällen ist die Krankheitsursache aber auch noch nicht bekannt - wegen geringer Fallzahlen und noch zu wenig Forschung. Das erschwert die Diagnostik und Behandlung.

Wie können seltene Krankheiten frühzeitig erkannt werden?

Erblich bedingte Erkrankungen begleiten das betroffene Kind von Geburt an. Ein paar seltene Erkrankungen können in einem Neugeborenen-Screening erkannt werden. Das Verfahren ist freiwillig, wird in ganz Deutschland angeboten und auch von Expertinnen und Experten empfohlen.

Damit können Kinder entdeckt werden, die an potenziellen Krankheiten leiden. Beobachtungen zeigen, dass es meist in den betroffenen Familien noch keine derartige Erkrankungen gab. Manche der seltenen Erkrankungen können so schon bei ganz kleinen Kindern entdeckt werden, bevor sie Symptome entwickeln, und frühzeitig therapiert werden.

Welche Therapien gibt es bei "seltenen Krankheiten"?

Ein Großteil der Seltenen Erkrankungen sind nicht heilbar. Statt der Krankheitsursache kann man häufig ausschließlich die Symptome bekämpfen. Die Entwicklung von Therapien schreitet verhältnismäßig langsam voran. Das liegt unter anderem daran, dass die Arzneimittelzulassung sehr lange dauert, so Professor Hoffmann.

In vielen Fällen können die Medikamente dabei helfen, Symptome zu lindern, das Voranschreiten der Erkrankung zu verlangsamen und die Lebenserwartung wesentlich zu steigern. So können beispielsweise Menschen mit Mukoviszidose dank moderner Medizin mittlerweile über 40 Jahre alt werden. Vor gut 80 Jahren lag die Lebenserwartung noch bei sechs Monaten.

Doch trotz der Erfolge gibt es noch viel Verbesserungsbedarf und -potenzial. Aber für große Hersteller ist die Entwicklung von Arzneimitteln für Seltene Erkrankungen, sogenannte Orphan Drugs oft nicht lukrativ. Denn der Markt macht nur einen sehr kleinen Teil der Pharmaindustrie aus. Seit dem Jahr 2000 fördert die EU die Entwicklung von Orphan Drugs. Nach einer Zählung des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen (vfa) sind seither 183 solcher Medikamente entwickelt worden.

Selten aber nicht allein - wo finden Betroffene Hilfe?

Einen Überblick zur Symptomatik seltener Krankheiten und weiterführenden Informationsanbietern stellt das Zentrale Informationsportal (ZIPSE) des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) zur Verfügung.

Eine erste Anlaufstelle für Diagnostik und Therapieberatung bieten die deutschlandweit 29 Zentren für Seltene Erkrankungen mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten.

Neben der Diagnostik und medizinischen Behandlung hilft es vielen Erkrankten und Familien, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Zu vielen seltenen Krankheitsbildern haben sich auf das Engagement Betroffener und Angehöriger hin Selbsthilfegruppen gegründet.