Studie zu psychischer Gewalt Die häufigste Form der Misshandlung
Beim Thema Gewalt gegen Kinder denken viele zuerst an Schläge oder sexuellen Missbrauch. Doch die häufigste Form ist emotionale Misshandlung - die gravierende Folgen haben kann, wie eine Studie zeigt.
Am Eingang einer Arztpraxis warf er den Mitarbeiterinnen Handküsse zu, dem Arzt setzte er sich schon nach wenigen Behandlungen unaufgefordert auf den Schoß - der sechsjährige Lasse fiel schon früh durch ungewöhnliches Verhalten auf. Was manche vielleicht als besonders herzlich oder kindlich-süß empfinden, macht dem Psychiater Lars Otto White von der Uni Leipzig jedoch Sorgen.
"In dem Fall haben wir eine Bindungsstörung infolge einer chronischen emotionalen Misshandlung diagnostiziert." Ausgelöst wurde sie in Lasses Fall durch verschiedene Probleme: den Vater, der nach der Trennung von der Mutter den Kontakt zum Sohn vernachlässigte. Und auch durch die wiederholte Drohung der überforderten Mutter, ihren Sohn "ins Heim zu stecken", wenn er über die Stränge schlug.
Weit verbreitet, schwer zu fassen
Lasses Beispiel ist dabei kein Einzelfall. Laut einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Studie, an der White beteiligt war, ist emotionale Gewalt die häufigste Form der Misshandlung von Kindern und Jugendlichen. "Unsere beiden wichtigsten Erkenntnisse sind, dass emotionale Misshandlung nicht nur am öftesten vorkam in unserer Stichprobe, sondern auch die schwerwiegendsten Folgen für die psychische Gesundheit der Kinder hatte."
Für die Untersuchung befragten White und seine Kollegen fast 800 Kinder und Jugendliche in ausführlichen Interviews. Der Kontakt kam unter anderem über Jugendämter zustande. Mehr als 300 von ihnen berichteten von Misshandlungen, davon fast 250 von emotionaler Gewalt.
Hohe Dunkelziffer
Wie viele Menschen insgesamt in Deutschland betroffen sind, lässt sich nur schwer sagen, da die Dunkelziffer hoch ist. UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, geht davon aus, dass emotionale Gewalt oder Vernachlässigung die verbreitetste Form ist und jedes dritte Kind weltweit davon betroffen ist. Der Psychiater Udo Dannlowski von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Uniklinikum Münster hält das auch in Deutschland für realistisch, auch aus seiner Berufserfahrung: "Sehr viele Patienten, die wir bei uns behandeln, kommen wegen Problemen, die durch emotionale Misshandlung mitbedingt wurden."
White und andere Experten halten diese Zahl jedoch für Deutschland für zu hoch. Er geht davon aus, dass in Deutschland bis zu zehn Prozent aller Menschen irgendwann einmal Opfer von psychischer Gewalt werden. Iris-Tatjana Kolassa von der Universität Ulm gibt zu bedenken, dass bei körperlicher Gewalt in der Regel auch psychische Gewalt im Spiel sei. "Von daher ist der Einfluss der verschiedenen Gewaltformen nicht immer scharf zu trennen. Aber man sollte emotionale Gewalt auf keinen Fall unterschätzen."
Beispiele für emotionale Misshandlung
Aber wo fängt psychische Gewalt an? Während Schläge oder sexueller Missbrauch - auch juristisch - recht klar definiert sind, ist die Grenze zu psychischer Gewalt oft fließend. White nennt deshalb lieber Beispiele als abstrakte Definitionen: "Ein klassischer Fall ist eine Rollenumkehr, also wenn beispielsweise die Kinder sich darum kümmern müssen, dass Frühstück auf den Tisch kommt, oder dass sie pünktlich in der Schule sind. Oder wenn Kinder alleinstehenden Eltern als Partnerersatz dienen müssen."
Ein anderes Beispiel seien Drohungen der Eltern, das Kind "wegzugeben", wenn es sich nicht wie gewünscht verhält. Aber auch "beleidigende Beschimpfungen, die auf den Selbstwert des Kindes abzielen" zählt White zu emotionaler Gewalt. Vernachlässigung sei dann gegeben, wenn dauerhaft elementare Bedürfnisse des Kindes zum Beispiel nach Nähe oder Anerkennung ignoriert würden.
Traumata summieren sich
"Generell wird es bei Kindern und Jugendlichen immer dann problematisch, wenn die Eltern, die eigentlich eine Quelle von Trost und Sicherheit sein sollen, diese Funktion nicht mehr wahrnehmen können und stattdessen zu einer Quelle der Angst und der Bedrohung werden", erklärt White. Auch die Zeit spiele eine Rolle und wie oft solche Misshandlungen erlebt werden.
Die Forschung spricht von der sogenannten Traumalast: "Traumatische Erfahrungen können sich im Laufe des Lebens aufsummieren", sagt Psychologin Kolassa. Wenn missbräuchliches Verhalten wiederholt oder dauerhaft stattfindet, steige die Wahrscheinlichkeit für eine psychische Erkrankung - gerade bei Kindern.
Weitreichende Folgen
Die Folgen können laut der Leipziger Studie gravierend sein und laut White genauso schlimme oder sogar schlimmere Folgen haben als körperliche Gewalt. Bei jüngeren Kindern zwischen drei und acht Jahren führte emotionale Misshandlung dabei vor allem zu einer Störung des Sozialverhaltens (Verhaltensauffälligkeiten), bei den älteren eher zu Depressionen und Angststörungen.
Auch posttraumatische Belastungsstörungen - wie sie sonst etwa Soldaten nach Kriegseinsätzen entwickeln - können die Folge sein. Diese Probleme können die Betroffenen danach ein Leben lang begleiten und zum Beispiel das Selbstwertgefühl oder die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen, negativ beeinflussen.
Dannlowski weist zudem darauf hin, dass psychische Gewalt auch Hirnstrukturen schädigen kann - gerade bei Kindern. "Der Hippocampus - der wichtig für unsere Emotionsregulation und die Gedächtnisbildung ist - besitzt besonders viele Rezeptoren für das Stresshormon Cortisol. Und wenn Kinder dauerhaft Stress empfinden, kann das toxische Folgen haben für dieses Hirnareal." Es könne dann beispielsweise sein, dass der Hippocampus nicht mehr gut wächst und kleiner bleibt. Auch eine erhöhte Reaktivität der Amygdala, des Angst- oder Alarmzentrums im Hirn, könne die Folge sein.
Mehr Bewusstsein schaffen
Angesichts der Studienergebnisse wünscht sich White vor allem eins: mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Das gelte einerseits für die breite Öffentlichkeit: Denn während Schläge und sexueller Missbrauch sehr oft thematisiert werden und es zahlreiche Hilfsangebote gibt, findet psychische oder emotionale Gewalt wenig öffentliche Beachtung, etwa in Medienberichten oder Beratungsstellen für Eltern.
Dannlowski wünscht sich zudem mehr Initiative seitens der Politik. Es könnte zum Beispiel mehr Aufklärung geben an Schulen oder in Geburtsvorbereitungskursen von Hebammen. Denn viele unterschätzen den Schaden, den emotionaler Missbrauch anrichten kann. "Wir brauchen einfach viel mehr Bewusstsein dafür, was ein guter Umgang mit Kindern ist und was nicht."