Biodiversitätsziele 2030 Mehr Wildnis gegen die Artenkrise
Forschende fordern mehr Wildnisgebiete in Deutschland. Doch ist eine Ausweitung der Schutzgebiete in einem dicht besiedelten Land überhaupt möglich? Was bedeutet die Biodiversitätskrise für die Lebensgrundlagen?
"Beim Klimawandel geht es darum, wie wir in Zukunft leben. Beim Artensterben geht es darum, ob wir als Menschheit überleben", sagt Katrin Böhning-Gaese, Direktorin am Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum in Frankfurt am Main. Die Biologin fordert, mehr Flächen in Deutschland auszuweisen, bei denen komplett auf menschliche Nutzung verzichtet wird - also mehr Wildnis.
Weitere Informationen zum Thema in "ARD Wissen: Arten retten! Wie wild kann Deutschland werden" am Montag, den 15.1.2024 um 22.20 Uhr im Ersten oder in der ARD-Mediathek.
Nur so ließen sich unsere Lebensgrundlagen langfristig sichern. Das klingt dramatisch, doch es ist wissenschaftlicher Konsens, dass wir uns am Anfang des sechsten Massenaussterbens der Erdgeschichte befinden. Beim letzten Massenaussterben sind die Dinosaurier ausgestorben, wahrscheinlich in Folge eines Asteorideneinschlags. Diesmal ist die Aktivität des Menschen die Ursache: Jeden Tag verschwinden weltweit bis zu 150 Tier- und Pflanzenarten, weil Ökosysteme zerstört werden. Wie lässt sich das Artensterben bremsen?
Das Protokoll von Montreal
Das globale Ziel ist klar: Bis 2030 sollen 30 Prozent der Landes- und Meeresflächen unter Schutz gestellt - und 30 Prozent der geschädigten Ökosysteme renaturiert werden. Dazu haben sich im Dezember 2022 rund 200 Staaten auf der Weltnaturschutzkonferenz in Montreal in Kanada verpflichtet.
Auch Deutschland hat unterschrieben und mittlerweile eine nationale Strategie zur Rettung der biologischen Vielfalt erarbeitet. Wo stehen wir aktuell? Insgesamt haben rund 37 Prozent der Fläche in Deutschland Schutzstatus. Und es mangelt nicht an Schutzgebieten: Naturpark, Biosphärenreservat, Landschaftsschutzgebiet, Nationalpark.
Haben wir das Ziel von Montreal schon erreicht? Keineswegs, denn nur in wenigen Gebieten wird die Artenvielfalt konsequent geschützt, sagt Katrin Böhning-Gaese: "Das Problem ist, dass in vielen Gebieten Forstwirtschaft, Landwirtschaft und Fischerei weiterhin erlaubt sind - und damit das Schutzziel eigentlich unterlaufen wird." Streng geschützt sind nur die Kernzonen von Nationalparks. Doch der Anteil an Nationalparks liegt bei mageren 0,6 Prozent. Und Naturschutzgebiete - sie machen nur 6,3 Prozent aus.
Deutschlands Natur wird ärmer
Die Folgen für die biologische Vielfalt sind katastrophal: Feldhamster, Ringelnatter, Rebhuhn - viele prominente und einst weitverbreitete Arten stehen auf der Roten Liste. Laut Rote-Liste-Zentrum sind rund 40 Prozent der Säugetierarten in Deutschland bestandsgefährdet. Bei den Vögeln sieht es nicht besser aus: 14 Vogelarten sind bereits verschwunden, über 40 Prozent der Vögel bestandsgefährdet. Etwa 70 Prozent der Reptilien sind vom Aussterben bedroht, gefährdet oder stark gefährdet.
Hinzu kommt das massive Insektensterben. Die Gesamtbiomasse der Insekten ist laut Krefeld-Studie in manchen Regionen Deutschlands um 75 Prozent zurückgegangen. Welche Bedeutung hat der Verlust der Biodiversität für das Leben auf der Erde?
Lebensgrundlagen in Gefahr
Es geht um nicht weniger als um die Sicherung unserer Lebensgrundlagen: sauberes Wasser, saubere Luft, gesunde Böden. "Fast alles, was wir Menschen brauchen, kommt aus der Natur - vom Trinkwasser über das Essen, unser Bauholz, selbst unsere modernen Medikamente", so Katrin Böhning-Gaese. "Und wenn die Ökosysteme nicht mehr stabil sind, können wir all diese Leistungen nicht mehr für garantiert nehmen."
Die trophische Kaskade: Schlüsselarten stabilisieren
Gibt es eine Mindestmenge an Arten, die ein Ökosystem benötigt, um zu funktionieren? Und sind bestimmte Arten wichtiger als andere? "Wir können nicht genau sagen, wie viele Arten wir brauchen, damit wir ein stabiles Ökosystem haben. Was wir wissen, ist, dass es manche Arten gibt, die eine ganz besonders große Rolle spielen", erklärt Katrin Böhning-Gaese.
Ein gutes Beispiel für eine solche "Schlüsselart" ist der Wolf: Im Yellowstone-Nationalpark in den USA gab es fast 70 Jahre lang keine Wölfe mehr. Als sie 1995 wieder angesiedelt wurden, veränderte sich das ganze Ökosystem: Die Wölfe hielten das Rotwild in Schach, das zuvor viele junge Bäume abgefressen hatte. So kehrten verdrängte Pflanzen und Bäume zurück. Das freute die Singvögel und Biber. Die Biber bauten Dämme, die dann den Fischottern zugutekamen. Die Flusslandschaft wurde vielseitiger. Eine Veränderung von oben nach unten - die "trophische Kaskade".
Und in Deutschland? Auch bei uns dezimieren Wölfe Schalenwild, das junge Baumtriebe abfrisst. Wo wieder Wölfe leben, verjüngt sich der Wald. Doch in unserer intensiv genutzten Kulturlandschaft dem Wolf das Revier allein zu überlassen, funktioniert nicht. Wir brauchen auch den menschlichen Jäger, um die Population etwa von Damwild zu regulieren, sagen Forschende. Aber was wäre, wenn der Mensch die Natur einfach machen lässt?
Hoffnung: intakte Wildnisgebiete
In Mecklenburg-Vorpommern gibt es so ein Gebiet: Den Anklamer Stadtbruch. Bei einer Sturmflut 1995 brachen hier die Deiche. Das Gelände verwandelte sich in eine wilde Moorlandschaft mit totholzreichen, feuchten Waldflächen. Jetzt ist die Natur der Architekt. Auf 2.000 Hektar leben Kraniche, Graugänse, Kormorane und Graureiher. Und es gibt hier die höchste Seeadler-Brutdichte in Mitteleuropa. In den alten Torfkanälen hat sich der Biber angesiedelt.
Gibt es dabei auch Kaskaden-Effekte wie im Yellowstone? "Wenn der Biber seine Bäume dicht am Gewässer fällt, verringert er den Gehölzbestand am Ufer und öffnet diesen Raum", erklärt Stefan Schwill vom Naturschutzbund NABU. Die Bäume, die weiter vom Wasser weg sind, können größer werden. Das schafft Platz für neue Arten.
Umweltverbände fordern, zehn Prozent der Landesfläche unter strengen Schutz zu stellen. Doch davon sind wir noch weit entfernt. "Das braucht Mut, aber auch in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland ist Wildnis möglich", meint Katrin Böhning-Gaese. Wenn wir die Biodiversitätsziele von Montreal ernst nehmen und unsere Lebensgrundlagen retten wollen, müssten wir hierzulande mehr naturnahe Ökosysteme möglich machen. Und mehr echte Wildnis.