Biodiversität Warnung vor Kipppunkten bei Artensterben
Bis zu eine Million Tier- und Pflanzenarten drohen in wenigen Jahrzehnten auszusterben. Experten warnen bereits vor Kipppunkten fürs Ökosystem. Welche Gefahren es gibt - und was können wir dagegen tun?
Was ist ein Kipppunkt beim Artensterben?
Von Kipppunkten ist häufig im Zusammenhang mit der Klimakrise die Rede. Das Schmelzen der Eisschilde oder das Abholzen des Amazonas-Regenwaldes werden zum Beispiel als solche bezeichnet. Damit ist gemeint: Ab einem Schwellenwert können die Folgen nahezu unumkehrbar sein und weitere Kettenreaktionen nach sich ziehen. Solche physikalischen Kipppunkte wirken sich auch auf das Artensterben aus.
Wissenschaftlern der Universität Oldenburg zufolge kann der Begriff Kipppunkt im Zusammenhang mit Biodiversität jedoch auch problematisch sein: Ein klar definierter Wert oder Bereich, in dem ein Ökosystem noch als stabil gilt, sei sogar kontraproduktiv für den Artenschutz, da wir dann kleinere, allmähliche Veränderungen übersehen könnten.
Wie gefährden Kettenreaktionen Ökosysteme?
Dass Ökosysteme durch das Artensterben fragil werden, liegt zum Beispiel daran, dass alle Lebewesen in einer Nahrungspyramide ihre Funktion haben und aufeinander angewiesen sind. Lebewesen, die wie die Ameisen als Ökosystemingenieure gelten, haben oft sogar eine Schlüsselfunktion: Von ihnen sind viele andere Lebewesen abhängig. Eine Schlüsselfunktion können aber auch jagende Tiere einnehmen, wie Forscher in den 1960er-Jahren in den USA herausfanden: Ohne bestimmte Seesterne in einem Küstenstreifen dominierten nach kurzer Zeit Muscheln und schädigten das Ökosystem.
Die Beispiele verdeutlichen: Selbst das Fehlen einzelner Tiere kann weitreichende Folgen haben - und jede Art ist wichtig. Da wir viele Arten noch gar nicht kennen, wissen wir auch nicht genau, welche von ihnen in welchen Ökosystemen Schlüsselfunktionen haben. Auch deshalb sollten wir laut Forschern die Natur insgesamt mehr schützen.
Wo gibt es Hinweise auf Kipppunkte im Artensterben?
Hinweise gibt es bereits einige: Selbst geringste, nahezu unbemerkte Veränderungen in der Zusammensetzung des Zooplanktons können gravierende Folgen für Ökosysteme haben. Bestimmten Zooplanktonorganismen, wie kleinen Ruderfußkrebsen ist es in der südlichen Nordsee mittlerweile zu warm. Stattdessen leben dort jetzt andere Arten von Zooplankton. Das hat Folgen für Fische: "Immer häufiger kommt es zu einer Match-Mismatch-Dynamik", sagt Dr. Anne Sell, Biologin am Thünen-Institut für Seefischerei Bremerhaven. Das bedeutet, dass die Beute eines Lebewesens sich zeitlich oder auch örtlich verschiebe.
Das betrifft zum Beispiel den Kabeljau, der vor allem im späten Winter laicht. Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt müssen die Larven des Kabeljaus Zooplankton in einer gewissen Größe fressen, um zu überleben. Die neue dominierende Art des Zooplanktons hat ihr größtes Vorkommen aber im Spätsommer, nicht im Frühling: Zu spät für den Kabeljaunachwuchs. Da es mittlerweile weniger, kleineres und weniger nährstoffreiches Zooplankton gibt, wird es für Kabeljaularven schwieriger, Nahrung zu finden und zu überleben. Wenn sich die Bestandsgröße des Kabeljaus verändert, beeinflusst das wiederum andere Arten.
Gleichzeitig führen die höheren Temperaturen dazu, dass sich invasive Arten wie Quallen und auch Tintenfische vermehrt ausbreiten. Ökologische Kipppunkte haben oft auch wirtschaftliche Folgen - zum Beispiel für Fischer. Wissenschaftlern der Universität Hamburg zufolge hat der Dorsch, wie der Kabeljau in der Ostsee genannt wird, durch Überfischung bereits einen Kipppunkt überschritten.
Kann es auch Kettenreaktionen mit positiven Effekten geben?
Ja, denn erholen sich Tiere und Pflanzen, können sich auch ganze Ökosysteme wieder etwas stabilisieren, wie das Beispiel der Seeotter zeigt. Mehr Seeotter im Meer kommen den Tangwäldern an der Pazifikküste zugute, die Lebensraum vieler Meeresbewohner sind. Seeotter ernähren sich von Seeigeln, die sich sonst stärker ausbreiten würden, und Tangwälder schädigen.
Einer Studie zufolge können Seeotter sogar die Fortpflanzung der Algen anregen, indem sie auf Nahrungssuche dort graben. Dadurch erhöht sich die genetische Vielfalt der Tangwälder und das schützt sie besser vor den Folgen des Klimawandels. Dabei waren Seeotter fast ausgestorben und sind noch immer "stark gefährdet".
Auch in Europa sind solche positiven Effekte zu beobachten: Biber können dazu beitragen, dass sich die Wasserqualität verbessert, was wiederum anderen Lebewesen hilft. Biber helfen sogar uns Menschen: Wissenschaftler aus Großbritannien untersuchen, wie die Biberbauten Fluten infolge von Extremwetter abmildern können.
Positive Kettenreaktionen können auch eintreten, wenn wir Menschen unser Verhalten ändern: Einer Studie zufolge gibt es trotz des Insektensterbens mehr wärmeliebende Libellen in Deutschland. Diese Libellenarten kommen besser mit den steigenden Temperaturen infolge des Klimawandels zurecht. Sie profitieren aber auch davon, dass sich die Wasserqualität in den vergangenen dreißig Jahren durch diverse Schutzmaßnahmen verbessert hat und sie wieder mehr Nahrung finden.
Warum bemerken wir das Artensterben im Alltag nicht früher?
Trotz solcher guten Nachrichten sollten wir das Artensterben keinesfalls unterschätzen: Eine Million Tier- und Pflanzenarten sind weltweit vom Aussterben bedroht. Fällt eine Art aus, kann das weitere Arten in Mitleidenschaft ziehen. Trotzdem bemerken wir diese Bedrohung im Alltag meist erst, wenn eine Art verschwunden ist.
Dies könne laut Experten auch am sogenannten Shifting-Baseline-Syndrom liegen: Wissenschaftler fanden heraus, dass eine Generation den Eindruck hat, dass sich die Biodiversität im Vergleich zu früheren Jahrzehnten oder Jahrhunderten kaum verändert hat. Wir sind einfach an einen aktuellen Zustand gewöhnt und nehmen diesen zum Maßstab. Wie es um die Biodiversität in der Vergangenheit bestellt war, ist uns weniger bewusst. Dieses Denken zu hinterfragen, könnte ein wichtiger Schritt für mehr Engagement im Artenschutz sein.