DDR-Volksaufstand 1953 Kurzer Moment des Widerstands
Heute vor 70 Jahren protestierten in der ganzen DDR rund eine Million Menschen gegen das SED-Regime. Moskau beendete den Volksaufstand mit Panzern. Der Tag prägte das Land und die deutsche Demokratiegeschichte.
Auslöser für die Proteste ist die zehnprozentige Erhöhung der Arbeitsnorm - eine von mehreren Maßnahmen, mit der die SED-Regierung um Walter Ulbricht den "Aufbau des Sozialismus" vorantreiben will. Konkret bedeutet das: Mehr arbeiten für weniger Lohn. Die DDR-Führung unterschätzt den Unmut in der Bevölkerung. Am 15. und 16. Juni treten Arbeiterinnen und Arbeiter in den Generalstreik - zunächst auf den Großbaustellen in Berlin, schnell landesweit.
Live-Berichte über die Streiks im Radio spielen bei der schnellen Ausbreitung der Protestbewegung eine große Rolle. Reporterinnen und Reporter, speziell des Rundfunks im amerikanischen Sektor (RIAS) und des NWDR, übertragen die Forderungen der Streikenden nach besseren Arbeitsbedingungen. Millionen Menschen in der ganzen DDR solidarisieren sich - der Streik wird zum Volksaufstand. Jetzt lauten die Forderungen auch: freie Wahlen und deutsche Einheit.
Die DDR-Führung taucht ab
Am Mittag des 17. Juni erreicht der Aufstand seinen Höhepunkt. Die politische Führung der DDR, Staatssicherheit und Volkspolizei befinden sich, wie DDR-Historiker Stefan Wolle im Gespräch mit SWR2 Wissen sagt, in einem Zustand "vollkommener Orientierungslosigkeit".
Vertreter der SED-Regierung, darunter auch Walter Ulbricht, suchen Schutz bei der sowjetischen Besatzungsmacht in Karlshorst. Otto Nuschke, stellvertretender DDR-Ministerpräsident und Mitglied der Ost-CDU, wird in seinem Wagen von Demonstrierenden bedrängt und schließlich für kurze Zeit von West-Polizisten in Sicherheit gebracht. In einem spontanen Radio-Interview sagt er, er sei "geraubt" worden.
Auf der Ost-Berliner Seite sind am 17. Juni 1953 sowjetische Panzer aufgefahren, West-Berliner verfolgen die Vorgänge im Ostteil der Stadt.
Sowjetische Panzer beenden den Volksaufstand
Hilfe für die SED kommt aus Moskau. Um 13 Uhr lässt der Militärkommandant des sowjetischen Sektors per Rundfunk den Ausnahmezustand ausrufen. Sowjetische Soldaten und Panzer rücken in Städten wie Berlin, Halle, Dresden und Jena vor. Wo sich die Demonstrierenden nicht vertreiben lassen, wird geschossen.
Rund 120 Menschen sterben, genaue Zahlen sind bis heute nicht ermittelt. Mehrere Tausend werden verhaftet. Etliche Streikführer werden in den Folgewochen in Schauprozessen zu langen Haftstrafen verurteilt. Das harte Durchgreifen des sowjetischen Militärs zeigt Wirkung. Am Abend des 17. Juni 1953 ist der Volksaufstand beendet.
Sowjetische Panzer rückten in mehreren Städten aus. Demonstranten bewarfen sie mit Steinen. Hunderttausende Menschen gingen in zahlreichen Städten und Orten in der gesamten DDR auf die Straßen.
Westmächte fürchten gesamtdeutschen Aufstand
In der Bundesrepublik ist die Regierung um Bundeskanzler Konrad Adenauer von den Ereignissen in der DDR überrascht. Noch am Nachmittag des 17. Juni zeigt sich Adenauer im Bonner Bundestag solidarisch mit den Demonstrierenden, ruft sie aber dazu auf, sich nicht zu "unbedachten Handlungen" hinreißen zu lassen.
Die Sorge ist groß, in Moskau könnte ein politisches Eingreifen des Westens die prekäre europäische Sicherheitspolitik ins Wanken bringen. Frankreich, England und die USA fürchten zudem, der Volksaufstand könnte sich auf die gesamte deutsche Bevölkerung ausweiten und zu einem allgemeinen Protest gegen die alliierten Besatzungsmächte werden. Kurz: Soweit möglich, hält man sich raus.
Karl-Eduard von Schnitzler: Provokation westlicher Agenten
Schon am 18. Juni 1953 sitzt die SED-Regierung unter Walter Ulbricht wieder fest im Sattel. Die DDR-Führung verbreitet ihre Deutung der Ereignisse. Maßgebend ist dafür ihr Chef-Propagandist Karl-Eduard von Schnitzler, Kommentator des Ost-Berliner-Rundfunks und bis über 1989 hinaus glühender Verfechter der DDR.
Der Volksaufstand sei eine Provokation westlicher Agenten gewesen, sagt von Schnitzler, die von der großen Mehrheit der DDR-Bevölkerung nicht unterstützt worden und nach wenigen Stunden zerschlagen worden sei: "Hier sind die dunklen Kräfte am Werk, die das deutsche Volk zwei Mal in die Katastrophe stürzten, und was sie bezwecken, ist, das Volk zum dritten Mal in die Katastrophe zu stürzen."
Später wird es außerdem heißen, der Westen habe unter Federführung der USA einen "faschistischen Putschversuch" unternommen. Einen Beweis für die These liefert die DDR-Führung nie.
Besonderer Tag der deutschen Demokratiegeschichte
Die Ereignisse des 17. Juni wirken gesellschaftlich und politisch nach. Bis zum Bau der Mauer am 13. August 1961 fliehen rund drei Millionen Menschen aus der DDR in den Westen. Die, die bleiben, hoffen auf einen Demokratisierungsprozess der SED oder arrangieren sich mit den Gegebenheiten.
Bei der DDR-Führung ist in den Jahren nach 1953 die Angst vor einem neuen Volksaufstand groß. Der Überwachungsapparat wird nicht zuletzt deswegen stark ausgebaut. Historiker Wolle vom DDR-Museum in Berlin hält den 17. Juni 1953 noch aus anderen Gründen für erinnerungswürdig: Die Niederschlagung der Proteste habe den wahren Charakter des SED-Staates gezeigt und lasse wenig Raum für romantisierende "Ostalgie".
Und: Der 17. Juni 1953 ist einer der wenigen Tage in der deutschen Demokratiegeschichte, an dem die Deutschen gegen ein unterdrückerisches Regime auf die Straße gegangen sind.