Proteste im Iran Was sagt der Islam zum Kopftuchgebot?
Bei den Protesten im Iran geht es auch um die Kopftuchpflicht für Frauen. Wie die Mullahs das Gebot begründen und was der Koran dazu sagt, erklärt die Islamwissenschaftlerin Pistor-Hatam im Interview.
tagesschau.de: Gibt es im Koran eine konkrete Vorschrift, die besagt, dass Frauen ihr Haar bedecken sollen?
Anja Pistor-Hatam: Es gibt im Koran verschiedene Stellen, in denen die Rede davon ist, wie Frauen sich zu kleiden haben. Zum Beispiel heißt es: Die Frauen sollen etwas von ihrem Gewand über ihren Ausschnitt ziehen. Einen konkreten Hinweis, dass sie ihr Haar bedecken sollen oder wie eine Kopfbedeckung aussehen soll, gibt es allerdings nicht.
tagesschau.de: Wie begründen dann die Mullahs die Pflicht zum Tragen des Kopftuches?
Pistor-Hatam: Das sind ja nicht nur die Mullahs im Iran die das so sehen. Auch viele muslimische Gläubige, übrigens auch viele Frauen sind der Meinung, dass sie ihren Kopf bedecken sollten und nicht nur den Kopf, sondern auch den gesamten Körper. Und sie beziehen sich dabei auf diese Stellen im Koran, interpretieren sie aber so, dass das Tragen einer Kopfbedeckung bzw. eines Schleiers eine Pflicht ist. Die Rechtsgelehrten im Iran sehen es beispielsweise so, dass der Prophet Mohammed und der Koran vorschreiben, dass Frauen sich verschleiern, denn weibliche Reize würden die Männer ablenken, zum Verlust der Ehre und zu Chaos führen.
Dazu kommt eine lange Tradition, die teilweise bis in vorislamische Zeit zurückreicht. So gab es etwa im Alten Orient schon eine Verschleierung vor allen Dingen der "ehrbaren" Frauen, also der Frauen, die höher gestellt waren. Sklavinnen durften sich im alten Mesopotamien zum Beispiel nicht verschleiern.
Islamische Vorschriften und patriarchale Gesellschaften
tagesschau.de: Der Iran ist ja eine islamische Republik - worauf gründet denn das islamische Recht?
Pistor-Hatam: Das islamische Recht hat sich über einen sehr langen Zeitraum entwickelt und entwickelt sich auch immer weiter fort. Das ist nicht etwa abgeschlossen und es basiert ganz allgemein auf vier Grundlagen: erstens dem Koran, zweitens dem Handeln und Sagen des Propheten, also der Sunna, drittens auf Analogieschlüssen - das bedeutet, dass man etwas, was im Koran vorgegeben ist, also beispielsweise das Verbot des Genusses von Wein, auf andere alkoholische Getränke überträgt. Und auf dem Konsens der Rechtsgelehrten einer Zeit, was bedeutet, dass diese sich in einer Sache nach Möglichkeit einig sein sollten und dann, wenn etwas nicht geklärt werden kann, mithilfe des Korans oder dem Vorbild des Propheten, zu einer Einigung kommen sollen.
tagesschau.de: Warum hat das Verhüllen im Islam denn generell so eine große Bedeutung? Wir denken zum Beispiel an Afghanistan und die Burka.
Pistor-Hatam: Das liegt am Zusammenwirken von islamischen Vorschriften, so wie sie interpretiert werden, und patriarchalen Gesellschaften, in denen der Islam sich ausgebreitet hat. So haben sich Vorstellungen von der Stellung der Frau tradiert. Deshalb haben wir hier eine Vermischung traditioneller, nicht religiöser Elemente mit religiösen Elementen des Islams. Nicht alles, was man heute unter muslimischer Kleidung versteht, ist unbedingt muslimisch.
tagesschau.de: Auch in anderen Religionen tragen ja Frauen manchmal Kopftuch, also zum Beispiel katholische Nonnen oder orthodoxe Gläubige. Warum ist das so?
Pistor-Hatam: Das hat sicherlich verschiedene Bedeutungen. Religiosität ist ein Grund. Wenn sie beispielsweise Paulus Korintherbrief lesen, dann werden sie da auch eine Stelle finden, in der es heißt, dass die Frauen ihre Köpfe bedecken müssen. Jüdisch-orthodoxe Frauen tragen, wenn sie verheiratet sind, häufig Perücken oder andere Kopfbedeckungen. Aber das Haupthaar der Frauen scheint eine Bedeutung zu haben, die weit über die jeweilige Religion hinausgeht, in der dann die Kopfbedeckung von Frauen vorgeschrieben ist oder zu sein scheint.
Grundsätzlich besteht aber natürlich ein Unterschied darin, ob Frauen entscheiden können, ob sie sich verhüllen wollen, oder ob sie dazu gezwungen werden. Diejenigen, die zur Zeit in Iran protestieren und ihre Tücher herunterreißen, betrachten den Schleier als Symbol der Unterdrückung. Dies kommt auch in ihrem Slogan zum Ausdruck: Frau - Leben - Freiheit.
tagesschau.de: Sie selber waren auch schon öfter im Iran und mussten dann natürlich auch ein Kopftuch tragen. Wie fühlt sich das an und was verändert sich dadurch?
Pistor-Hatam: Ich hatte schon den Eindruck, eingeschränkter zu sein. Man bewegt sich anders. Es ist ein anderes Körpergefühl, weil es ja auch nicht nur um die Bedeckung der Haare geht, sondern weil im Iran auch die Körperformen von Frauen nicht so gut zu erkennen sein sollen. Ich hatte aber auch den Eindruck, dass andere einen mit Kopftuch anders wahrnehmen.
tagesschau.de: Die aktuellen Proteste im Iran sind ja sehr heftig und dauern schon sehr lange an. Können Sie sich vorstellen, dass die Staatsführung in Teheran sich irgendwann dem Druck der Straße beugt und das Kopftuchgebot abschafft?
Pistor-Hatam: Das glaube ich nicht, weil das Kopftuch ein Symbol ist für die islamische Lebensführung und die islamische Kleidung. Und das sehen im übrigen nicht nur die Regierenden, sondern ganz viele Menschen dort so. Würde man das abschaffen, würde dies vieles in Frage stellen, wofür die Islamische Republik steht. Ich bin generell nicht sehr optimistisch, was den Ausgang dieser Proteste angeht, weil ich davon ausgehe, dass dies erst der Beginn der brutalen Zerschlagung der Protestierenden ist.