Iran Wochen des Aufbegehrens - und kein Ende
Seit dem Tod von Mahsa Amini reißen im Iran die Unruhen nicht ab. Es geht um die Selbstbestimmung von Frauen, aber es geht auch um das Herrschaftssystem im Land. Ein Überblick über die wichtigsten Aspekte.
Worum geht es bei den Protesten genau?
Indem unzählige Frauen sich ihr Kopftuch herunterreißen und teilweise spektakulär verbrennen, protestieren sie gegen die repressive und frauenverachtende Politik der Islamischen Republik. Denn die Kopftuchpflicht für Frauen gehört neben der religiösen Staatsführung und der Feindschaft zu den USA und Israel zu den Grundfesten des Landes. Somit geht es um eine grundlegende Kritik am politisch-religiösen System Irans.
Dies zeigt sich besonders darin, dass immer wieder Bilder der "Revolutionsführer" - Ayatollah Ruholla Khomeini und Ayatollah Ali Khamenei - verbrannt werden und der Slogan "Marg bar diktator" (Tod dem Diktator) skandiert wird. Zudem geht es um die Selbstbestimmung der Frauen, denn das System der Islamischen Republik macht die Frauen zu Personen zweiten Ranges und verwehrt ihnen grundlegende Lebenschancen.
Inwieweit unterscheiden sich die jetzigen Proteste von früheren?
Anders als bei früheren Protesten gibt seit dem Tod Mahsa Aminis Demonstrationen in allen 31 Provinzen des Landes. Die Teilnehmenden kommen aus allen sozialen Schichten. Selbst im armen Süden Teherans, wo das Regime bisher überdurchschnittlich viel Zuspruch hatte, gab es Unruhen. Zudem nehmen sämtliche Ethnien Irans an ihnen Teil - Perser, Kurden, Araber, Azeri-Türken und Balutschen.
Hinzu kommt, dass sich wichtige sozio-ökonomische Institutionen angeschlossen haben: So gab beziehungsweise gibt es Streiks in der Stahl- und Agrarindustrie sowie in einigen der wichtigen Raffinerien am Persischen Golf. Auch der Basar in Teheran hatte aus Solidarität geschlossen. Die petrochemische Industrie und die Basare spielten eine Schlüsselrolle bei der Revolution 1979.
Inwieweit wendet sich der Protest gegen den Islam?
In Iran sind Politik und Religion unmittelbar verknüpft. Das System der Islamischen Republik heißt "Statthalterschaft des (theologischen) Rechtsgelehrten" "Velayat-e faqih" und sieht vor, dass ein Theologe uneingeschränkt an der Spitze des Staates steht. Die meisten politischen Entscheidungen werden daher mit dem Islam begründet.
Zudem wendet die Justiz Aspekte der Scharia an, die Frauen in der Ehe, beim Scheidungs- und Erbrecht sowie bei der Ausübung öffentlicher Ämter deutlich benachteiligt. Damit ist jeder Protest gegen die Politik in Iran auch ein Protest gegen die dortige repressive Auslegung des Islams.
Wie groß ist die Chance auf Erfolg des Protestes?
Das ist schwer zu sagen. Man darf nicht vergessen, dass das iranische Regime nach wie vor stark ist: Es verfügt über die Staatsgewalt, Geld, Waffen und brutale Mitläufer. Zudem setzt es zur Niederschlagung der Proteste auch verurteilte Straftäter ein - wohl in der Hoffnung, diese seien gewalttätig und loyal aufgrund ihrer Freilassung. Ein Vorteil der Proteste ist, dass sie klein und sehr zahlreich sind. Das erschwert ein gezieltes und zentrales Vorgehen gegen sie.
Diese Zersplitterung ist aber - politisch betrachtet - auch ein Nachteil. Denn der jetzigen Protestbewegung fehlt im Gegensatz zur "Grünen Bewegung" von 2009 eine personelle Spitze. Solange es aber niemanden gibt, der im Falle eines Regimewechsels die politische Verantwortung übernehmen könnte, besteht die Gefahr eines Machtvakuums.
In welcher Position ist die iranische Führung?
Für die Machthaber in Iran kann es momentan keinen Kompromiss geben. Da das Kopftuch konstitutiv ist für das politische System, gibt es für sie in dieser Frage keinen Spielraum. Jedes noch so geringe Nachgeben würde unweigerlich den Anfang vom Ende der Islamischen Republik bedeuten.
Kein Wunder, dass die regierungstreue Zeitung "Keyhan" - Sprachrohr von „Revolutionsführer“ Ayatollah Khamenei - jüngst in ihrem Leitartikel schrieb: "Ein Dialog mit einem Haufen von Unruhestiftern, Söldnern und Mördern, die nichts anderes im Sinne haben als zu zerstören und zu töten, ist absolut fehl am Platz."
Welche Folgen hätte es, wenn das iranische Regime fallen würde?
Sollte die Islamische Republik stürzen, dürfte dies Auswirkungen haben, die denen des Mauerfalls gleichkämen. Ein Regimewechsel als Folge einer erfolgreichen Frauenrechtsbewegung in Iran wäre nicht nur ein politisches Novum, sondern auch ein Signal für die Länder im gesamten Nahen Osten und darüber hinaus wecken würde.
Zudem würde sich dann die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen eines politischen Islams grundsätzlich neu stellen. Denn ein repressives Staatssystem, das den Islam erklärtermaßen als politische Grundlage hat, wäre gescheitert. Immerhin war die Revolution von 1979 lange Zeit Vorbild und Rückenwind für viele islamistische Bewegungen weltweit - obgleich der Iran mehrheitlich schiitisch ist, die meisten anderen Staaten der Region jedoch sunnitisch.