Geschwisterforschung Tickt die älteste Tochter anders?
Die Rolle der ältesten Tochter prägt diese für das ganze Leben, besagt das "Eldest Daughter Syndrome". Aber stimmt das wirklich? Wissenschaftliche Studien liefern eine eindeutige Antwort.
Sie übernimmt Verantwortung, will es allen recht machen, ist ein Überflieger und kann nur schwer Grenzen setzen - so ist sie, die älteste Schwester. Zumindest wenn man den vielen Videos glaubt, die zurzeit in den sozialen Medien kursieren. Da ist vom "Eldest Daughter Syndrome" die Rede, also vom "Älteste-Tochter-Syndrom".
Aber kann das überhaupt sein, hat die Reihenfolge, in der wir und unsere Geschwister geboren werden, einen Einfluss auf unsere Persönlichkeit?
Die älteste Schwester trägt meist mehr Verantwortung
Das "Eldest Daughter Syndrome" (EDS) beschreibt den Druck und die Verantwortung, mit denen die älteste Tochter einer Familie umgehen muss. Die Kombination aus dem Geschlecht der Tochter und dass sie die Älteste ist, führt angeblich zu einer bestimmten Rolle, die sich sogar langfristig auf das weitere Leben auswirken kann.
Dazu sagt die Psychologin Julia Rohrer: "Es ist in keinem Fall eine psychiatrische Diagnose oder irgendwas, was uns wirklich als Syndrom bekannt wäre." Ihre Forschung spräche tatsächlich eher dafür, "dass es da vielleicht nicht diese spezifischen Konstellationen oder diese Effekte gibt, von denen die Leute ausgehen, dass es die geben könnte".
Dennoch identifizieren sich viele Frauen auf Social Media mit EDS und tauschen sich über ihre Erfahrungen als älteste Schwester aus. Das Label "Eldest Daughter Syndrome" kann den Frauen helfen, ihre Erfahrungen und das eigene Verhalten einzuordnen.
Viel hängt von den Eltern ab
In einer Studie konnten Psychologin Rohrer und ihr Team zeigen, dass es keinen wissenschaftlichen Beweis dafür gibt, dass die Reihenfolge, in der wir geboren werden, einen Einfluss auf unsere Persönlichkeit hat. Studien von anderen Forschungsgruppen kommen zu dem gleichen Ergebnis.
Wie viel Verantwortung die älteste Tochter übernimmt, hängt stark von den Eltern ab. Sie sind verantwortlich dafür, ob ihre älteste Tochter beispielweise auf die kleineren Geschwister aufpassen oder ihnen bei den Hausaufgaben helfen muss. Sie sollten ihre Kinder auch dabei unterstützen, ihre eigenen Grenzen zu erkennen und einzufordern.
Kinder haben eigenes Temperament
Jedes Kind habe von Geburt an sein eigenes Temperament und das beeinflusse auch, ob sich die Geschwister anfreunden oder eher zanken, sagt Rohrer. Aber diejenigen, die sich nur gestritten haben, können im Alter wieder zusammenfinden.
Denn im Laufe des Lebens verändert sich die Beziehung zu unseren Geschwistern. Während der Kindheit sind wir unseren Geschwistern sehr nah und verbringen viel Zeit mit ihnen. In der Pubertät lösen wir uns langsam los und versuchen uns selbst zu finden. Die größte Distanz haben wir, wenn wir mit Beruf, Kindern oder Partnern zu tun haben. Im Alter wird die Beziehung dann oft wieder enger.
Das ist natürlich nicht bei allen Geschwisterpaaren so. Dennoch merken wir gerade in der Kindheit, da ist immer noch irgendjemand anderes. Jemand mit dem man viele Jahre unter einem Dach leben und sich die Süßigkeiten-Schublade teilen muss. Dadurch können die Kinder erste Beziehungsstrategien erleben und verschiedene Rollen ausprobieren.
Geschwister verbringen mehr Zeit miteinander als mit Eltern
Geschwister sind oft die erste Bezugsperson, Freundin, Spielkamerad und am wichtigsten: Verbündete gegen die Eltern. Wer kennt es denn nicht, wenn man zusammen nach versteckten Weihnachtsgeschenken sucht oder die Eltern so lange nervt, bis man noch länger Fernsehen darf. Da werden dann auch schnell kleinere Rangeleien vergessen.
Aber Geschwister sind nicht nur tolle Spielkameraden, sondern auch totale Nervensägen, Kritiker oder Konkurrentinnen. "Je näher die beieinander sind, desto mehr Reibungsflächen entstehen, desto mehr erleben sie sich auch als Handlungs- und Erprobungsgemeinschaft", erklärt Sozialpädagoge Joachim Armbrust. "Und je weiter die Kinder auseinander sind, desto mehr fällt es auch auseinander."
Ob wir mit Brüdern oder Schwestern aufwachsen, kann einen Unterschied machen. Brüder mit einem engen Altersabstand konkurrieren häufiger und werden dabei handgreiflich. Schwestern streiten auch heftig miteinander, meistens aber nur verbal und haben eine engere Beziehung zueinander.
Auf der Suche nach der eigenen Nische
Mit der Zeit versuchen sich die Geschwister voneinander abzugrenzen. Das nennen Experten "De-Identifikation", vereinfacht gesagt: Bloß nicht das machen, was die Geschwister machen. Die Idee hinter der De-Identifikation ist, die Geschwister suchen ihre eigene Nische. Das kann zum Beispiel ein Hobby sein, das von den anderen Geschwistern nicht gemacht wird, und es so keine Konkurrenz gibt. Es kann auch dazu führen, dass die Geschwister eher die gesellschaftlichen Geschlechterrollen annehmen.
Psychologin Rohrer berichtet bei SWR Wissen: "Was wir tatsächlich wissen, ist, dass Frauen, die mit Brüdern aufwachsen statt mit Schwestern, eher in einem typisch weiblichen Berufen landen und sogar eher zu Hause bleiben, wenn das erste Kind kommt. Sie heiraten sogar eher Männer mit typisch männlichen Berufen."
Ob wir nun als erstes, zweites, drittes oder viertes Kind geboren werden, hat keinen Einfluss auf unsere Persönlichkeit. Geschwister können aber einen Einfluss darauf haben, welchen Hobbys wir nachgehen oder welche Musik wir hören. Entweder, weil wir ihnen es gleichtun oder aber das genaue Gegenteil machen wollen.