Studie aus Italien Eine fühlende Prothese
Dank einer neuen Hightech-Prothese kann ein Betroffener wieder zwischen warm und kalt unterscheiden. Das Besondere: Die Technik funktioniert ohne Operation. Thermoelektroden berühren lediglich die Haut des amputierten Arms.
Fabrizio sitzt im Labor der italienischen Forschungsgruppe in Pisa und kann kaum glauben, was er fühlt. Mit 20 Jahren hat der heute 57-Jährige seine Hand und Teile des Unterarms verloren. Erst jetzt kann er mit der neuen Prothese-Technik zum ersten Mal wieder am betroffenen Arm zwischen warm und kalt unterscheiden.
"Das ist viel intensiver als bei einer normalen Hand, also was das Fühlen von Hitze und Kälte angeht", sagt Fabrizio in einem Video, das das Forschungsteam der Universität Sant'Anna School of Advanced Studies veröffentlicht hat.
Er spürt wieder den Händedruck, die Wärme eines anderen Menschen. "Mit diesen neuen Modellen kann ich alles, was ich anfasse, besser verstehen und weiß, wie man die Hand besser bewegen kann." In einem Experiment konnte er unterschiedlich warme Metallwürfel erkennen, schreibt die Forschungsgruppe im Fachmagazin Med. Das Experiment wurde über einen Zeitraum von über einem Jahr 15-mal wiederholt, mit stabilen Ergebnissen.
Fabrizio lebt bereits seit Jahrzehnten mit Arm-Prothese
Neuer Sensor erkennt die gefühlte Temperatur
Die Technik besteht aus einem innovativen Sensor an der Prothese und kleinen Wärme-Kälte-Platten, die auf der Haut am verbliebenen Armstumpf aufliegen und die Wärmeinformation weiterleiten. Der Sensor sitzt am Finger der Prothese und misst nicht nur die Oberflächentemperatur, sondern auch die Wärmeleitfähigkeit, um die gefühlte Temperatur zu ermitteln.
Die Wärmeleitfähigkeit ist ein wichtiger Schlüssel: So fühlen sich zwei gleich warme Gegenstände für uns unterschiedlich warm an, weil sie aus zwei verschiedenen Materialen bestehen - mit unterschiedlicher Leitfähigkeit. Metall leitet Wärme besser, fühlt sich deswegen kälter an als zum Beispiel Kunststoff.
Kleine Heizplatten tricksen das Gehirn aus
Der Sensor misst also die gefühlte Temperatur von Gegenständen und gibt die Information auf raffinierte Art und Weise an die Haut des Armstumpfs weiter. Das heißt: Eine kleine Heiz-Kühl-Platte stimuliert bestimmte Hautareale auf der Haut am Stumpf, das Gehirn interpretiert die Stimulation aber auch als Gefühl in der Hand.
Berührt der Patient also mit der Prothese eine heiße Tasse, leitet der Sensor die Information an die angeschlossene Heizplatte am Unterarm weiter. Sie erwärmt sich. Das Gehirn interpretiert die Temperaturveränderung auf der Haut aber als Gefühl im Finger.
Etwa 60 Prozent der Patienten mit amputiertem Unterarm könnten davon profitieren, sagen die Studienautoren. Sie hatten das Temperaturempfinden zuvor bei 27 Betroffenen getestet.
Fabrizio macht mit dem Forschungsteam mit verbundenen Augen Tests mit der Prothese.
Illusion der Phantomhand wird verändert
"Die Technik vermittelt die Illusion, dass sich seine fehlende Hand abkühlt und erwärmt", sagt der beteiligte Forscher Silvestro Micera aus Pisa. Damit trickst das Forschungsteam das Gehirn aus und nutzt eine Illusion, die das Gehirn bei Amputierten automatisch erzeugt: Betroffene berichten von Phantomschmerzen und Phantomgefühlen. Sie haben immer wieder den Eindruck, die Hand sei noch da.
Mit neuen Sensoren versuchen Forschungsteams diese Illusion zu nutzen und gezielt Nervenbahnen anzusteuern. Fast immer werden dazu Elektroden in den noch vorhandenen Teil des Arms implantiert - durchaus mit Erfolg.
Bei dem neuen Ansatz aus Pisa müssen die Betroffenen jedoch nicht operiert werden. Ein großer Vorteil, sagt Professor Rüdiger Rupp. Den Ansatz findet er vielversprechend. Allerdings seien die verwendeten Heiz-Kühl-Platten, die Thermoelektroden, vermutlich noch zu schwer und bräuchten zu viel Energie: "Das Ding ist fast genauso groß wie die Prothese. Es muss deutlich kleiner werden", sagt Rupp. Die Patienten erwarteten eine Prothese, die genauso viel wiegt wie eine natürliche Hand oder ein Oberarm.
Mehr Sensoren für mehr Gefühl sind geplant
Seit zehn Jahren arbeitet das italienische Forscherteam an der Technologie. Jetzt möchten sie ihre MiniTouch genannte Technik fest in Prothesen einbauen. Bisher wird der Sensor nur von außen an einem der Finger befestigt. In Zukunft soll die thermische Information von mehreren Fingern und vom Handrücken übertragen werden. Vor allem durch den geplanten Sensor am Handrücken der Prothese sollen Betroffene die Hand eines anderen noch stärker spüren. Das Forschungsteam spricht von einem noch intensiveren Gefühl menschlicher Verbundenheit.
Was ist in Zukunft noch möglich?
"Es gibt wirklich sehr interessante, auch invasive Ansätze, mit denen man tatsächlich Tastsinn, Temperatur, Druck, Empfinden, Lage letztlich dann restaurieren kann", sagt Professor Rüdiger Rupp vom Universitätsklinikum Heidelberg.
Vor allem durch implantierte Elektroden könnten auch Schmerzpatienten profitieren: "Da könnte es tatsächlich sein, dass man damit sehr wirksam den Phantomschmerz behandeln kann." Das wäre auch ein relevanter Faktor für das Gesundheitssystem. Betroffene können durch die starken Phantomschmerzen oft nicht arbeiten. Sie könnten von neuen schmerzlindernden Prothesen enorm profitieren.
Zurück zum 57-jährigen Fabrizio aus Italien. Er freut sich über die Möglichkeiten der neuen Prothese aus Pisa, die er ohne Operation nutzen kann. Er möchte den neuen Sensor mit seiner Prothese so bald wie möglich zu Hause testen. Doch noch gibt es keine Zulassung für den Einsatz zu Hause. Fabrizio will die Prothese dann vor allem beim Kochen testen.