"Tipflation" in den USA Mehr Trinkgeld für weniger Service
In den USA gilt Trinkgeld als Teil des Einkommens, denn der Stundenlohn reicht meist nicht aus. Bis zu 20 Prozent der Rechnung wird inzwischen gegeben - oder sogar verlangt. Experten sprechen von einer Trinkgeld-Inflation.
Soll ich dem Verkäufer wirklich ein Trinkgeld dafür geben, dass er mir eine Flasche Wasser über den Tresen reicht? Oder der Barista, wenn sie mir einen Coffee to go in die Hand drückt? Diese Frage muss man sich seit einiger Zeit meist stellen, wenn man in den USA etwas kauft. Denn so gut wie überall erscheint beim Bezahlen mit der Karte auf dem Display die Aufforderung, ein Trinkgeld zum Betrag hinzuzufügen.
Es fing an mit der Corona-Pandemie. Ähnlich wie in Deutschland wollten viele Kunden in Nordamerika Angestellte in Restaurants oder bei Lieferdiensten mit einem kleinen Bonus unterstützen, erklärt Professor Michael von Massow von der Universität Guelph in Kanada. "Als wir dann wieder zurück zur Normalität übergegangen sind, dachten viele, jetzt wird sich das wieder legen. Aber das tat es nicht."
Vorgeschlagene Trinkgeld-Beträge
Immer mehr Trinkgeld für immer weniger Service. Diese sogenannte "Tipflation", also Trinkgeld-Inflation, wird in Nordamerika zu einem immer größeren Phänomen. Lange haben viele Menschen das auch mitgemacht. Eine Auswertung des Zahlungsdienstleisters "Square" hat ergeben, dass die US-Amerikaner im letzten Quartal 2022 17 Prozent mehr Trinkgeld in Restaurants gegeben haben als im Vorjahreszeitraum. Selbst bei Schnellimbissen ohne große Serviceleistung waren es 16 Prozent Zuwachs.
Für Ladenbesitzer hat das System den Vorteil, dass sie Kosten beim Personal sparen. Statt auf eine große Gehaltserhöhung müssen die Angestellten darauf hoffen, dass die Kunden weiter ein großzügiges Trinkgeld geben.
Dabei hilft, dass in Nordamerika immer häufiger mit Karte bezahlt wird. Statt zu fragen, ob die Kunden Trinkgeld geben wollen und sie selbst einen Betrag eintippen zu lassen, werden Beträge direkt vorgeschlagen - ein niedriger, ein mittlerer und ein hoher, erklärt Professor von Massow. "Psychologisch tendieren wir dann eher zur Mitte und geben vielleicht mehr als wir eigentlich wollten."
Trinkgeld zeigt "Charakter des Kunden"
Das Trinkgeld habe in den USA allgemein einen ganz anderen Stellenwert als in Europa, sagt Politikwissenschaftlerin Holona Ochs von der Lehigh Universität in Pennsylvania. Zusammen mit Kollegen hat sie Servicekräfte aus verschiedenen Bereichen interviewt: "Wir haben dabei festgestellt, dass Mitarbeitende ihr Trinkgeld nicht als Belohnung für guten Service sehen, sondern als Ausdruck des Charakters des Kunden." Genau darauf baut das Tip-System mit vorgeschlagenen Beträgen: Wer möchte vor seiner Begleitung im Restaurant schon als besonders geizig dastehen?
Doch langsam wächst der Unmut bei einigen Amerikanern darüber, dass immer mehr Menschen ein immer höheres Trinkgeld einfordern. Der durchschnittliche Betrag ist über die Jahre weiter angewachsen auf inzwischen rund 20 Prozent der Rechnung. Viele Servicemitarbeiter sind auf das Trinkgeld zum Überleben angewiesen, denn in großen Teilen der USA gilt für sie ein niedrigerer Mindestlohn als für andere Beschäftigte. In der Hauptstadt Washington DC beispielsweise sind es nur sechs Dollar in der Stunde für alle, die Trinkgeld erhalten.
Wirtschaftsforscher befürchten allerdings, dass die Bereitschaft für ein immer höheres Trinkgeld mit zunehmender "Tipflation" ein Ende haben könnte und es dann eine Art Verteilungskampf gibt - mit negativen Folgen auch für die Kunden. Laut von Massow hätten einige befragte Servicemitarbeiter gesagt: "Wir schauen uns die Kunden an einem Tisch an und schätzen, wie hoch die Rechnung sein wird und wie viel Trinkgeld sie wohl geben werden." Von Massow befürchtet, dass dadurch junge Leute oder Menschen, die zu einer Minderheit gehören, schlechter bedient und beraten werden könnten als andere.