Autoexperte Bratzel im Interview "Die Politik hat weggeguckt"
Autoexperte Stefan Bratzel hält Manipulationen bei Abgastests nicht nur bei VW für möglich. Im Interview mit tagesschau.de kritisiert er eine Kultur des Wegschauens der Politik, denn es habe zahlreiche Hinweise auf Unstimmigkeiten bei den Abgaswerten gegeben.
tagesschau.de: VW-Konzernchef Martin Winterkorn ist von seinem Posten zurückgetreten. Warum war der Druck zu groß?
Stefan Bratzel: Der Schaden, der durch die Manipulationen der Abgastests angerichtet wurde, ist enorm. Jemand musste an höherer Stelle die Verantwortung übernehmen. Und man muss ja auch überlegen: Wer hätte denn künftig mit den Amerikanern diese Themen verhandelt? Winterkorn hätte das nicht machen können, nachdem sich das schon so lange hinzieht. Wir wissen ja, dass über ein Jahr lang versucht wurde, das zu verheimlichen und die Manipulation erst unter massivstem Druck zugegeben wurde.
tagesschau.de: Volkswagen hat bereits eine Gewinnwarnung herausgegeben. An der Börse stürzte die VW-Aktie in der Spitze um mehr als 20 Prozent ab. Könnte der Schaden für den Konzern existenzbedrohend werden?
Bratzel: Natürlich summiert sich der Schaden schon jetzt zu einer wahrscheinlich nicht kleinen zweistelligen Milliardensumme, denn zu den möglichen Strafzahlungen kommen auch die Sammelklagen hinzu. Zudem wird auch die Kaufzurückhaltung, die jetzt stattfinden wird, sehr viel Geld kosten.
Und nun kommen auch noch mehrere Probleme zusammen: Volkswagen hat auch Einbrüche in China. Und wenn jetzt der Markt in Amerika ein großes Problem wird - und davon ist auszugehen - dann wird es immer schwieriger. Dann braucht es schon eine hohe Flexibilität, um den Konzern stabil zu halten.
Aber: Der Konzern ist außerordentlich leistungs- und finanzstark. Im Moment sehe ich daher noch nicht, dass die Schieflage existenzbedrohend wird.
Stefan Bratzel (Jahrgang 1967) ist Professor für Automobilwirtschaft an der Fachhochschule der Wirtschaft (FHDW) in Bergisch Gladbach und Leiter des dortigen Center of Automotive.
Enormer Imageschaden für die gesamte deutsche Autoindustrie
tagesschau.de: Die deutsche Autoindustrie war bislang der Inbegriff deutscher Ingenieurskunst. Wie groß ist der Imageschaden für die deutsche Autoindustrie aufgrund der Manipulationen?
Bratzel: Der Imageschaden ist enorm. Den kann man im Moment noch gar nicht beziffern. Unsere Studien zeigen aber: Volkswagen hat tolle Ingenieure und viele Innovationen. Daher ist es eben so tragisch, dass man trotz solcher Fähigkeiten, Potentiale und Innovationsstärke zu solchen Mitteln greift. Das diskreditiert natürlich neben Volkswagen auch die deutsche Autoindustrie.
Deshalb ist nun Aufklärung wichtig: Wer hat hier geschummelt? Inwiefern war das abgestimmt? Und woran lag es eigentlich, dass man geschummelt hat? Wollte man nur Geld sparen oder war man etwas übermütig? Also nach dem Prinzip: Wir wollen auf dem amerikanischen Markt das Thema Diesel vorantreiben und dazu darf eben das Diesel-Auto nicht soviel kosten. Das muss man jetzt herausfinden und sortieren, auf wen das Ganze zurückgeht.
Man darf eben nicht alles in einen Topf werfen nach dem Motto, die VW-Ingenieure bekommen das Ganze nicht hin. Das wäre ein Stück zu weit. Das Gleiche gilt natürlich auch für die anderen Konstrukteure der BMWs und Daimlers, die jetzt fast schon in Sippenhaft genommen werden.
Auffällige Abweichungen auch bei anderen Marken
tagesschau.de: Könnte es sein, dass auch andere Konzerne diese Praxis betrieben haben?
Bratzel: Unabhängige Tests der ICCT, die das Ganze ins Rollen gebracht haben, zeigen schon, dass eben nicht nur Volkswagen-Fahrzeuge betroffen sind, sondern eben auch andere Marken auffällige Abweichungen zwischen den Prüfergebnissen und den Realergebnissen hatten. Man muss jetzt sehr genau prüfen, ob da etwas dran ist oder ob tatsächlich - so wird es behauptet - die Abweichungen an den Umweltbedingungen liegen. Ich glaube, dass schon eine gewisse Gefahr besteht, dass diese Praxis nicht nur auf Volkswagen beschränkt ist.
Allerdings muss man unterscheiden: auf der einen Seite zwischen einer möglicherweise strafrechtlich relevanten beziehungsweise illegalen Problematik, dass man Software im Prüfverfahren einsetzt, die dann nicht im Realbetrieb zur Geltung kommt. Das ist nämlich auch in Deutschland verboten. Und auf der anderen Seite steht die Frage, ob man die bestehenden Prüfregelungen kreativ ausnutzt. Das eine ist Betrug, während das andere zwar nicht schön ist, aber kein strafrechtlich relevantes Thema.
tagesschau.de: Wieso ist es offenbar so schwierig, auf legalem Weg bei den Tests in den USA die Prüfwerte einzuhalten?
Bratzel: Es ist umso schwieriger je günstiger die Fahrzeugklasse ist. In Premiumfahrzeugen können Sie ein paar hundert Euro mehr viel leichter verkraften als bei Kompaktwagen oder Kleinwagen. Insofern ist insbesondere in diesem Bereich genauer hinzuschauen, ob sich da möglicherweise mehr dahinter verbirgt.
tagesschau.de: Bei den Tests in Europa sind allerdings auch viele legale Tricks möglich.
Bratzel: Ja, beim Fahrzeugtest im neuen europäischen Fahrzyklus ist vieles erlaubt, beispielsweise überscharfer Reifendruck, das Abkleben irgendwelcher Luftschlitze oder dass man die Lichtmaschine an die Batterie klemmt, um die relevanten Kraftstoffkosten zu sparen. Es gibt viele legale Schlupflöcher, und die werden genutzt. Doch was auch hier in Deutschland nicht erlaubt ist, ist eine Software einzusetzen für Prüfgänge.
Kultur des Wegschauens
tagesschau.de: Nun schickt Verkehrsminister Dobrindt Kontrolleure nach Wolfsburg. Hat die deutsche Politik die Autoindustrie in den vergangenen Jahren zu wenig kontrolliert?
Bratzel: Das ist in Deutschland für mich einer der eigentlichen Skandale, denn im Prinzip ist das Kraftfahrtbundesamt ganz nah dran an diesen Themen. Es ist für die Genehmigung zuständig und weiß natürlich über seine Spezialisten, was Sache ist. Und das Umweltbundesamt weist seit Jahren auf diese Themen hin. Es gab also Hinweise genug, denen man hätte nachgehen können und denen man nicht nachgegangen ist! Das Verkehrs- und das Umweltministerium haben hier weggeguckt und nicht mal den eigenen Behörden geglaubt, zum Schaden der deutschen Industrie und bereits vorher zum Schaden der Gesundheit der Bevölkerung.
In diesem Zusammenhang muss diskutiert werden, wie man das künftig regulieren kann: Wir sehen ja schlechterdings, dass trotz Euro-4-Norm die Emissionssituation in Städten nicht besser wird. Das hätte doch ein Stück weit auffallen müssen.
Wobei ich nicht sagen will, dass der Kontakt zwischen Politik und Industrie in Deutschland zu eng war - aber man hat hier eben nicht richtig kontrolliert. Diese Unabhängigkeit muss trotz einer engen Zusammenarbeit - die ich für wichtig und notwendig halte - stattfinden.
tagesschau.de: Was müsste denn jetzt geschehen?
Bratzel: Für mich ist das eine Art Weckruf: Es muss ein Paradigmenwechsel in Deutschland stattfinden, ein Kulturwandel in den deutschen Behörden und der Politik, damit diese Kultur des Wegschauens beendet wird.
Man sollte also künftig Realtests als Grundlage nehmen und stichprobenhafte Kontrollen. Das wäre auch im Sinne der deutschen Industrie, denn es kann natürlich nicht sein, dass dieser Vorfall zu einem dauerhaften Schaden der deutschen Industrie führt. Und es braucht - das zeigt dieser Vorfall wieder - eine klare, gute Kontrolle. Daran hat es eben - trotz zahlreicher Hinweise - gefehlt, dieser Vorwurf muss schon an die Regierung gehen.
Das Interview führte Caroline Ebner, tagesschau.de.