Rechnungen

Verschuldung durch Inflation Hohe Preise - tief in den Miesen

Stand: 29.06.2022 12:22 Uhr

Die steigenden Preise treffen viele Menschen im Alltag hart. Nicht nur in Haushalten mit niedrigen Einkommen reicht das Geld oft nicht mehr. Schuldnerberatungsstellen arbeiten bundesweit am Limit. Zum Beispiel in Speyer.

Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Speyer hat seinen Sitz mitten in der Stadt. Das Gebäude ist ein nüchterner Zweckbau. Innen aber spielen sich teilweise persönliche Dramen ab. Die Beratungsstelle ist Anlaufpunkt für diejenigen, die mit ihrem Alltag, dem familiären Umfeld oder ihren Finanzen nicht mehr klarkommen.

"Je größer die Teuerung, desto mehr Anfragen und Hilferufe bekommen wir. Das hat sich zunächst langsam gesteigert. Inzwischen kommen jede Woche mehr Menschen", sagt Tanja Gambino. Sie ist Sozialpädagogin und leitende Referentin in der Diakonie - unter anderem in der Schuldner- und Insolvenzberatung.

"Die Zahlungsschwierigkeiten von immer mehr Menschen haben mit der Corona-Krise ihren Anfang genommen", erzählt Gambino. Mit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 hätten viele sozial Schwächere ihre Arbeit verloren - etwa Minijobber. "In der Mittelschicht mussten oft Soloselbstständige ihr Geschäft aufgeben. Auch viele Angestellte sind in Kurzarbeit gegangen. Bei beiden Gruppen waren Mitte vergangenen Jahres oft die Ersparnisse weg." Und dann kam die Inflation.

Ratenzahlung als Versuch

Bei ihr in der Diakonie in Speyer habe es den ersten großen Andrang zum Jahreswechsel gegeben. "Damals sind die Energiekosten deutlich nach oben gegangen. Viele Energieversorger hatten damals auch Nachforderungen gestellt", erinnert sich Gambino.

Der nächste Preisschock kam dann in den Supermärkten und an den Tankstellen. Auslöser: der Krieg gegen die Ukraine. "Bei unseren Klienten laufen immer mehr Rechnungen auf. Plötzlich ist das Konto überzogen. Alles gerät ins Rutschen. Irgendwann wird dann Gas und Strom abgestellt", so Gambino. Bevor es so weit komme, versuche die Diakonie, mit Stromanbietern und Banken Ratenzahlungen auszuhandeln.

Tanja Gambino

Die Sozialpädagogin Tanja Gambino macht Schuldnerberatung für die Diakonie. Jede Woche kommen derzeit mehr Menschen, sagt sie.

Die Diakonie in Speyer bietet bei Finanzsorgen eine erste Notfallberatung an. Normalerweise erhalten Ratsuchende hier einen Termin innerhalb von zwei Wochen. Danach dauere es aber bis zu sechs Monate, bevor der nächste Termin vergeben werden könne. "Die Nachfrage ist einfach zu groß. Auffallend ist auch, dass fast alle Termine von den Kunden eingehalten werden. Das war früher nicht so. Der Druck steigt. Die Inflation ist inzwischen in der Mittelschicht angekommen."

"Sozialer Friede gefährdet"

Ein paar Büros weiter packt Landesdiakoniepfarrer Albrecht Bähr seine Aktentasche. Gleich macht er sich auf den Weg zur Landesregierung nach Mainz. Es geht um das Thema Armutsbekämpfung. "Was wir in Speyer erleben, gilt für ganz Rheinland-Pfalz. Auch bei der Caritas oder der Arbeiterwohlfahrt melden sich immer mehr Leute, die nicht mehr über die Runden kommen", sagt Bähr.

Er fordert gezielte Hilfen für Sozialhilfeempfänger und einkommensschwache Haushalte. "Die Aggressionen in vielen Familien steigen. Wir beobachten auch eine steigende Alkoholsucht. Vor allem Kinder leiden. Wir müssen auf diese gesellschaftliche Gruppe verstärkt schauen, ansonsten ist der soziale Friede gefährdet."

Berater empfehlen frühzeitige Umschuldung

In Berlin zieht Ines Moers aktuelle Zahlen aus der Schublade. Sie ist die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung. Ines Moers hat mit ihrem Team gerade eine Umfrage ausgewertet. Daran teilgenommen haben rund 1400 Stellen bundesweit. Danach hatte sich bereits im vergangenen Spätsommer die Zahl der Ratsuchenden um zwei Drittel erhöht. Auch in diesem Jahr ist der Trend ungebrochen: Bis Anfang März stieg die Nachfrage abermals deutlich an - um 56 Prozent.

"Die Menschen trauen sich jetzt, in die Beratung zu kommen", sagt Moers. "Immer mehr sind betroffen. Sie verlieren ihre Scham, wozu es schon vorher keinen Grund gab." Ihr bleibt nur der Appell: "Je früher von der Teuerung Betroffene zu uns, kommen, desto mehr können wir retten. Jede frühzeitige Umschuldung ist besser als ein Insolvenzverfahren."

Sorgen mit Blick auf den Winter

Und wie geht es mit dem Blick auf die Teuerung weiter, vor allem bei den Energiepreisen? Die Bundesregierung denkt immerhin über ein drittes Entlastungspaket nach. Kanzler Olaf Scholz stößt indes mit seinem Vorschlag für eine Einmalzahlung für Angestellte auf breiten Widerstand. Das Bundesverbraucherschutzministerium rät zu einem sparsamen Umgang mit Energie. Konkrete Entlastungsprogramme der Koalition sind derzeit also nicht absehbar.

Gerade beim Gas scheint wegen des Krieges gegen die Ukraine inzwischen fast jede Steigerung möglich. "Das macht mir keine Sorgen, sondern fast schon Angst", sagt Tanja Gambino. Auch sie ist für gezielte Hilfen - konkret eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes II. "Bei Sozialhilfeempfängern werden Preissteigerungen beim Heizen vom Amt übernommen. Für die Mittelschicht aber wird das ein Riesenproblem, weil für sie niemand anderes zahlt. Ich fürchte, wir stehen vor einem sehr schwierigen Herbst und Winter."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete SWR4 am 08. Juni 2022 um 12:00 Uhr.