Hoher Krankenstand in vielen Firmen Husten, Schnupfen, Corona?
Unternehmen melden immer wieder Personalausfälle durch massenhafte Krankschreibungen - wegen Corona, so lautet oft die Begründung. Doch die Daten der Krankenkassen zeigen ein anderes Bild.
Vor zwei Wochen meldete die Lufthansa, dass sie das Gepäck ihrer Passagiere nicht mehr verladen könne. Sie habe einfach nicht mehr genug Bodenpersonal zur Verfügung, um alle Koffer zu verladen. Manch Gepäckstück musste sogar per Lkw hinterhergefahren werden - mit entsprechender Verspätung.
Als Grund für die Panne gab die Lufthansa den hohen Krankenstand beim Bodenpersonal an: Bis zu 30 Prozent der Mitarbeiter seien arbeitsunfähig gemeldet. Und der Krankenstand wiederum sei zustande gekommen "aufgrund von Corona-Infektionen, aber auch bedingt durch Überlastung". Merkwürdig allerdings: Die Corona- und Überlastungswelle betraf offenbar exklusiv das Bodenpersonal. "Beim fliegenden Personal in Cockpit und Kabine ist die Quote deutlich geringer im einstelligen Bereich."
Auf Nachfrage konnte die Lufthansa den Unterschied nicht erklären und räumte ein: Sie wisse gar nicht, warum die Mitarbeiter des Bodenpersonals krankgeschrieben seien. Auf der Arbeitsunfähigkeitsmeldung, die Arbeitgeber erhalten, ist schließlich der Grund der Erkrankung nicht eingetragen. Lag es wirklich an einer Corona-Welle, die ausgerechnet das Bodenpersonal betraf? Oder lag es doch an der Überlastung, die das Bodenpersonal immer wieder beklagt - und in der vergangenen Woche auch als einen Grund für seinen Warnstreik anführte?
Erkrankungswelle jenseits von Corona
Was ist wirklich dran an der wahrgenommenen Corona-Welle, die in diesem Sommer scheinbar droht, ganze Betriebe in Deutschland lahmzulegen? Die Krankenkassen veröffentlichen regelmäßig Zahlen, die zeigen, wie viele Menschen aus welchen Gründen wie lange krankgeschrieben sind: die Statistiken zum monatlichen Krankenstand.
Der Dachverband der Berufskrankenkassen, BKK-DV, etwa hat ermittelt, dass tatsächlich gerade eine Krankheitswelle über Deutschland schwappt. Husten, Schnupfen, Heiserkeit: Die Symptome sind auf den ersten Blick Corona-ähnlich. Doch laut Statistik sind es vor allem andere Atemwegserkrankungen, die Deutschlands Bevölkerung plagen. Im Durchschnitt war im Juni jeder BKK-Versicherte 0,3 Tage mit einer Atemwegserkrankung krankgeschrieben, das ist aber höchst ungewöhnlich für die Jahreszeit.
"Normale" Erkältungen - mitten im Sommer
Normalerweise spielten Atemwegserkrankungen im Mai und Juni keine Rolle, sagt Dirk Rennert, der beim BKK-Dachverband seit 2014 die Statistiken pflegt: "Das ist auffällig, dass die 'normalen Atemwegserkrankungen' so hoch liegen. Das Problem liegt von den Zahlen her eher bei den anderen Atemwegserkrankungen." Corona hingegen hat demnach im Juni nur mit 0,06 Arbeitsunfähigkeitstagen zugeschlagen, also um den Faktor fünf geringer als "normale Erkältungen". Zwar haben auch die Corona-Fälle zugenommen, aber nicht im selben Ausmaß.
Warum es momentan so viele Atemwegserkrankungen gibt, ist nicht leicht zu erklären. Dass all die Fälle in Wahrheit unerkannte Corona-Fälle sind, die einfach falsch diagnostiziert wurden, glaubt Rennert nicht. Dagegen spreche einiges: zum Beispiel, dass die Diagnosen von Ärzten gestellt wurden, die bei Corona-Verdacht normalerweise einen Test veranlassen. Zudem hätte das Phänomen dann auch schon zuvor auftreten müssen - so ist es aber nicht. Es kam erst mit dem Sommer: "Das erste Quartal ist bei den Atemwegserkrankungen nicht so auffällig - auch nicht im Vergleich zu 2018 oder 2019, also vor Corona". Sprich: Im Frühjahr lagen die Krankschreibungen noch auf erwartbarem Normalniveau. Warum also jetzt nicht mehr?
Eine einfache Antwort kann auch Rennert nicht liefern. Als Statistiker stellt er ungern Mutmaßungen an, mögliche Erklärungen sieht er aber im Auslaufen von Corona-Maßnahmen und einer veränderten Verhaltensweise der Menschen: "Normalerweise gehe ich nur zum Arzt, wenn der Leidensdruck sehr hoch ist. Seit Corona gehen die Leute mit Husten und Schnupfen eher zum Arzt. Auch wenn es nicht Corona ist, sondern eine andere Atemwegserkrankung. Die wird dann eher erkannt."
Werden Krankheiten "nachgeholt"?
Der Medizinstatistiker Gerd Antes vermutet einen anderen Effekt: Nach zwei Jahren voller Vorsicht verhielten sich die Menschen jetzt anders. Auch sind Maßnahmen wie die Maskenpflicht weitgehend gefallen - und diese habe nicht nur Corona-Ansteckungen verhindert, sondern eben auch genau jene "Atemwegserkrankungen", die jetzt um sich greifen.
Die hohen Zahlen aus der Krankenstandstatistik hält er für belastbar: "Der Effekt ist sehr groß. Eine naheliegende Erklärung ist, dass wir im Winter durch Masken Ansteckungen auch von allen anderen Atemwegserkrankungen verhindert haben. Das wäre also ein klassischer Nachhol-Effekt."
Als Beleg führt er an, dass die Grippeinfektionszahlen seit dem Frühjahr 2020 auf extrem niedrigem Niveau lagen. Die Bevölkerung habe somit auch kaum Immunisierungen gegen Grippe und andere Infektionskrankheiten aufbauen können. Genau das führe eben zu der hohen Zahl der "anderen" Atemwegserkrankungen. Eine Corona-Welle in diesem Sommer sieht er hingegen nicht: "Politik-Medien-Wissenschaft zeichnen ein Bild von der Lage, das auf Corona fokussiert ist. Das verzerrt die Realität."
In der Realität der Krankenstatistiken sind andere Atemwegserkrankungen eben deutlich häufiger als Corona. Und natürlich können auch andere Krankheiten die Abläufe in deutschen Unternehmen stören. So musste die S-Bahn Berlin vor zwei Wochen den Schienenersatzverkehr für zwei Linien komplett absagen. Wörtlich lautete die Meldung: "Wegen eines erhöhten Krankenstandes bei den mit dem Ersatzverkehr beauftragten Busunternehmen verkehren die Linien S46X und S8X nicht." Das Wort "Corona" kommt in der Meldung nicht vor.