Hohe Energiekosten Chemieindustrie im Würgegriff
Kaum eine Branche braucht soviel Energie wie die Chemieindustrie - und kaum eine Branche ächzt so unter den hohen Strom-, Gas- und Ölpreisen. Was schafft Abhilfe?
"Das Haus brennt", sagt der Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Markus Steilemann, "die Zahlen sind rot." Freitagmittag stellte die ehemalige Vorzeigebranche der deutschen Industrie in Frankfurt am Main Daten zur Geschäftsentwicklung des ersten Halbjahres vor. Die Produktion der Chemieindustrie (ohne Pharma) ist gegenüber dem Vorjahreshalbjahr um ein Sechstel gesunken. "Wir sind der erste Dominostein, der wackelt", sagte Steilemann. "Wenn es uns schlecht geht, folgen bald auch andere."
VCI- Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup bezeichnete die Zahlen zu Produktions- und Umsatzrückgang (geschätzt für 2023: minus 14 Prozent) als "hochrepräsentativ" für die gesamte Branche. Sie ergeben sich aus 320 vollständigen Antworten auf eine Umfrage unter den 1900 Mitgliedsunternehmen des Verbands.
Der Niedergang der Chemieindustrie wird auch in amtlichen Zahlen sichtbar. Während im Mai die Beschäftigung des gesamten verarbeitenden Gewerbes um 1,4 Prozent stieg, sank die Beschäftigung in der Chemie um 0,8 Prozent. Zwar arbeiten nur 350.000 Menschen in der Branche, doch sind das überwiegend hochqualifizierte Facharbeiterinnen und Facharbeiter und Akademikerinnen und Akademiker. Branchenpräsident Steilemann wies darauf hin, dass nach hohen Tarifen bezahlt werde und die förmliche Mitbestimmung von Arbeitnehmern üblich sei.
Strom und Gas sind knapp und teuer
Die Chemieindustrie ist auch die Branche mit dem höchsten Energiebedarf. Strom und Gas sind knapp und teuer geworden. Das ist der Grund für den aktuellen Niedergang. Das Statistische Bundesamt nennt für die Chemieindustrie einen Jahresbedarf von weit über 300 Terawattstunden (2020). Das ist die Hälfte dessen, was sämtliche deutschen Privathaushalte verbrauchen. Der größte deutsche Chemiestandort, BASF in Ludwigshafen, verbrannte vergangenes Jahr allein Erdgas mit 24 Terawattstunden Energie.
Eine Terawattstunde sind eine Milliarde Kilowattstunden. Derzeit ist Strom im Großhandel für etwa zehn Cent pro Kilowattstunde zu haben. Industrie, Gewerkschaften und auch der grüne Bundeswirtschaftsminister sind sich einig, dass das viel zu teuer für auskömmliche Geschäfte in energieintensiven Branchen ist.
Subventionen für Industriestrom?
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck plädiert für Subventionen: Industriestrom soll mit Staatsgeld auf sechs Cent pro Kilowattstunde verbilligt werden. Die Hoffnung ist, dass nach einer Übergangszeit genug grüne Energie zur Verfügung steht, die Preise dann fallen und die Chemieindustrie ihre Energie wieder selbst bezahlen kann. Marktwirtschaftlich orientierte Ökonomen befürchten dagegen, dass Subventionen Branchen am Leben erhalten, die in Deutschland keine Chance mehr haben und dass notwendige Anpassungen an erneuerbares Wirtschaften verschleppt werden. "Kurzsichtig und verantwortungslos" nannte das Chemiepräsident Steilemann.
"Wir haben lange mit uns gekämpft, denn wir sind überzeugte Marktwirtschaftler", sagte Steilemann am Freitag. Doch um die Branche zu retten, sei die Subventionierung des Energiebedarfs notwendig: "Beim Industriestrompreis geht es um Löschwasser". Wie Wirtschaftsminister Habeck spricht Steilemann von einer Brücke in eine Zukunft mit mehr und billigerer grüner Energie. "Unter besten Annahmen reden wir von sechs bis sieben Jahren", sagte Steilemann, "aber das ist hochspekulativ". Denn Erneuerbare Energiequellen würden längst nicht so zügig ausgebaut, wie politisch gefordert. "Wann gedenkt die Bundesregierung den Pfad zu beschreiten, den sie selbst definiert hat?" mahnte der Chemiepräsident.
Abwandern ins Ausland?
Die Chemieindustrie ist neben dem Maschinenbau seit 150 Jahren Kern der deutschen Wirtschaft. Im Grundsatz sei die Branche auch heute noch gut aufgestellt, sagte Steilemann. Es gebe stabile Zusammenarbeit mit Universitäten, zahlreiche Patentanmeldungen und viele im Land verstreute kleine, mittlere und große Unternehmen. Mittlerweile überlegten auch Unternehmen, die sich kaum aus Deutschland und Europa herausgetraut hatten, in China zu investieren, berichtete Branchenpräsident Steilemann - unter anderem, weil Energie dort deutlich billiger ist.