Interview mit Dirk Wiese, SPD "Lesen hilft"
Zwei Stunden ohne Handy - Dirk Wiese hat die Zeit im Lesesaal durchaus als wohltuend empfunden. Seinen Informationsgewinn hält er für überschaubar. Er sei ohnehin mit vielen Gesprächspartnern in Konktakt. Wieses Grundsatz: so viel Transparenz wie möglich.
tagesschau.de: Warum haben Sie von dem Lesesaal Gebrauch gemacht?
Dirk Wiese: Der Leseraum ist ein Schritt in die richtige Richtung. Mehr nicht. Eigentlich möchte ich die Dokumente auf meinem Schreibtisch lesen. Nichtsdestotrotz nutze ich selbstverständlich die Möglichkeit. Allerdings war ich schon vor Eröffnung des Leseraums gut über die Verhandlungen informiert. Ich stehe im regelmäßigen Austausch mit meinen Kollegen im Europäischen Parlament. Das Wirtschaftsministerium informiert die Abgeordneten des Bundestages umfassend. Ich habe Gesprächspartner, sowohl Befürworter als auch Gegner, auf beiden Seiten des Atlantiks.
Im Gegensatz zu den Texten der Amerikaner sind die Texte der EU-Kommission zudem für alle öffentlich und können auf deren Homepage eingesehen werden. Das gilt auch für die umfassenden Protokolle nach jeder Verhandlungsrunde.
tagesschau.de: Was hat Sie in Zusammenhang mit TTIP besonders interessiert?
Wiese: An Freihandelsabkommen reizt mich die Möglichkeit, Globalisierung zu gestalten, dem internationalen Handel klare Regeln zu geben. Dabei ist es wichtig, dass es endlich eine öffentliche Diskussion gibt. Das ist gut, richtig und notwendig. Bei den bereits 138 Freihandelsabkommen seit 1959 hat es vergleichbare Diskussionen so nicht gegeben.
Freihandelsabkommen sind heutzutage komplex und bedürfen einer differenzierten und ausgewogenen Betrachtung im Sinne unserer europäischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen. Es ist wichtig, dass man am Verhandlungstisch sitzt, um bestehende Schwächen sozialdemokratisch und im Sinne der Menschen zu verändern. Ganz im Sinne von Willy Brandt: „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“
Zettel und Stift reichen
tagesschau.de: Unter Anderem mussten Mobiltelefone während des Aufenthalts im Lesesaal eingeschlossen werden – eine nachvollziehbare oder eine übertriebene Maßnahme?
Wiese: Mein Handy ist mir zwar wichtig, aber nicht notwendig, um entscheidende Informationen zu lesen und zu verstehen. Es ist gut, zwei Stunden konzentriert und ohne Ablenkung diese wichtigen Dokumente einzusehen. Dass die Dokumente nur in Englisch zur Verfügung stehen, ist kein Problem, da Kolleginnen und Kollegen einen Dolmetscher nehmen können. Zettel und Stift helfen, damit wir uns Notizen machen können. Das erscheint nicht modern, reicht aber aus.
Ein solcher Leseraum ist übrigens für uns Parlamentarier nichts Neues. Er ist vergleichbar mit der Geheimschutzstelle im Bundestag. Mancher aus der Opposition kannte das wohl nicht.
Dass manche Verhandlungsgegenstände geheim bleiben müssen, liegt daran, die eigene Verhandlungsstrategie nicht zu schwächen. Dies ist ein normales Vorgehen, wenn man beispielsweise an die Verhandlungen über das Atomabkommen mit dem Iran denkt. Kurzum: Transparenz ist kein Selbstzweck. Wir wollen die Menschen mitnehmen, wir wollen ein gutes und gerechtes Verhandlungsergebnis erzielen.
"Märkte sind wie Fallschirme"
tagesschau.de: Hat sich Ihre Einstellung zu TTIP nach der Lektüre im Lesesaal verändert?
Wiese: Lesen hilft. Im Leseraum liegen derzeit die konsolidierten Verhandlungstexte zu 13 verschiedenen Kapiteln aus. Konsolidiert bedeutet, dass die jeweiligen Verhandlungspositionen der USA und der EU-Kommission in den Dokumenten kenntlich gemacht sind und ersichtlich ist, wo bereits eine Verständigung erreicht wurde und wo nicht.
Derzeit befinden wir uns mitten in den Verhandlungen, das heißt, dass noch längst nicht alle Kapitel verhandelt worden sind. Die SPD hat klare Bedingungen festgelegt, was in einem solchen Abkommen enthalten sein muss. Stimmen diese am Ende der Verhandlungen, kann man zustimmen. Stimmen diese nicht, dann werden wir nicht zustimmen. Aber klar ist auch: Märkte sind wie Fallschirme. Sie funktionieren nur, wenn sie offen sind. Dazu braucht es klare und verständliche Regeln.
tagesschau.de: Nachdem Sie im Lesesaal gewesen sind: Was möchten Sie über TTIP jetzt noch wissen?
Wiese: In dieser Woche finden in Brüssel Gespräche zur 12. TTIP-Verhandlungsrunde statt. Geplant sind insgesamt 27 Runden. Demnach ist es noch ein langer Weg bis zum Vertragsabschluss. Von der dieser Verhandlungsrunde erwarte ich spürbare inhaltliche Fortschritte, da sich die Amerikaner bei wichtigen Punkten nicht bewegen.
Dies betrifft unter anderem die Aufhebung der "buy-american-clause", also die Öffnung der amerikanischen Beschaffungsmärkte, Bewegung bei den ILO-Kernarbeitsnormen, aber auch Fortschritte bei der Stärkung unseres wichtigen Maschinen- und Anlagenbaus. Hinzu kommt die Absage an das alte System der Schiedsgerichte. Hier haben wir dank Sigmar Gabriel richtige und wichtige Reformvorschläge hin zu einem internationalen Handelsgerichtshof auf dem Tisch.
Realität statt Roman
tagesschau.de: Geheimakten im Lesesaal - ist das ein Beispiel, das im parlamentarischen Raum Schule machen sollte?
Wiese: "Geheimakten im Lesesaal" klingt nach einem guten Roman, nicht aber nach der politischen Realität. Mir ist bewusst, dass das geplante Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA immer wieder in die Kritik gerät, nicht zuletzt wegen der oft beklagten Intransparenz.
Der vorherige EU-Kommissar Karel de Gucht war das Gegenteil von Transparenz. Gut, dass er im Ruhestand ist. Die neue Handelskommissarin Cecilia Malmström geht einen ganz anderen Weg: soviel Transparenz wie möglich. Dies begrüße ich ausdrücklich. Allerdings ist hundertprozentige Transparenz ein Irrglaube. Wer das fordert, sollte mal "The Circle" von Dave Eggers lesen.