Fragen und Antworten Was bringt das Gesetz zur Tarifeinheit?
Bei der Bahn streiten Unternehmen und gleich zwei Gewerkschaften um Tarifverträge für eine Berufsgruppe. Das neue Gesetz zur Tarifeinheit soll so etwas künftig vermeiden. Doch es ist umstritten. Was das Gesetz vorsieht und wie wirksam es ist, hat tagesschau.de zusammengefasst.
Ist ein Gesetz zur Tarifeinheit wirklich notwendig?
Bis zum Jahr 2010 galt in Deutschland der Grundsatz der Tarifeinheit: Das Prinzip "Ein Betrieb - ein Tarifvertrag" stand außer Frage. Dann kippte das Bundesarbeitsgericht dieses Prinzip in einem Grundsatzurteil. Seitdem ist es möglich, dass in einem Unternehmen mehrere Tarifverträge nebeneinander gelten, es herrscht also Tarifpluralität. Wenn nun konkurrierende Gewerkschaften für die gleiche Berufsgruppe in einem Unternehmen einen Tarifvertrag aushandeln wollen, kann es zu einem Tarifkonflikt kommen.
Die Regierung befürchtet eine Zersplitterung der Tariflandschaft und eine Beeinträchtigung der Tarifautonomie: Im Gesetzentwurf heißt es, "Tarifkollisionen bergen die Gefahr, dass die Koalitionen der (...) im allgemeinen Interesse liegenden Aufgabe der Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens nicht mehr gerecht werden können. Im Klartext meint das, die Regierung befürchtet mehr Streiks. Mit dem neuen Gesetz will Arbeitsministerin Andrea Nahles nun Anreize schaffen, dass es zwischen konkurrierenden Gewerkschaften wieder "zu mehr gütlichen Einigungen kommt, bevor es zum Streik kommt", sagte sie im Bericht aus Berlin.
Tarifkonflikte, wie derzeit bei der Deutschen Bahn, sind in Deutschland jedoch selten. Bei Ärzten in kommunalen Krankenhäusern gibt es beispielsweise schon lange konkurrierende Tarifverträge der Arbeitgeber mit ver.di und mit dem Marburger Bund, ohne dass dies in der Vergangenheit zu Konflikten geführt hätte. Der Arbeitsrechtler Ulrich Preis sieht keinen Regulierungsbedarf: "Es ist ja nicht so, dass das ganze Land im Griff von kleinen Sparten-Gewerkschaften wäre, die sich dauernd bekriegen. Man kann beileibe nicht erkennen, dass die Kollision von Gewerkschaftsinteressen das ganze Land lahmlegt. Wir sind eines der streikärmsten Länder der Welt", sagte er im tagesschau.de-Interview. Die Situation bei der Bahn sei eine ganz besondere und habe viel mit der GDL und ihrem Chef Weselsky zu tun. Im Tarifkonflikt bei der Lufthansa hingegen gebe es gar keine konkurrierenden Gewerkschaften.
Was sieht das Gesetz vor?
Im Kern sieht das Gesetz vor, dass bei Tarifkonflikten nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern gilt. Denn: "Die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie wird durch Tarifkollisionen beeinträchtigt", heißt es in dem Gesetzestext. Gemeint ist eine Überschneidung unterschiedlicher Tarifverträge für dieselbe Arbeitnehmergruppe im selben Betrieb. Mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb sollen daher in Tarifverhandlungen gemeinsam statt gegeneinander auftreten. Das soll verhindern, dass Arbeitgeber Dauerarbeitskämpfen mit unterschiedlichen Gewerkschaften ausgesetzt sind.
Gewerkschaften haben es laut Gesetzestext selbst in der Hand, Tarifkollisionen zu vermeiden: Sie können absprechen, dass ihre Tarifverträge für unterschiedliche Arbeitnehmergruppen gelten, eine Tarifgemeinschaft bilden und gemeinsam verhandeln - oder den Tarifvertrag der anderen Gewerkschaft übernehmen. Werden sie sich allerdings nicht einig, fällt am Ende der Tarifvertrag, den die Gewerkschaft mit weniger Mitgliedern ausgehandelt hat, unter den Tisch. Für bestehende Tarifverträge soll ein Bestandsschutz gelten.
Wie wird die Mitgliederzahl einer Gewerkschaft ermittelt?
Welche Gewerkschaft in einem Betrieb mehr Mitglieder hat, ist gegebenenfalls gar nicht so leicht zu ermitteln, denn bislang müssen Gewerkschaften ihre Mitgliederzahl nicht offenlegen. In einem entsprechenden Änderungsentwurf des Arbeitsgerichtsgesetzes steht dazu, dass "über die Zahl der Mitglieder oder das Vertretensein einer Gewerkschaft in einem Betrieb Beweis auch durch die Vorlegung öffentlicher Urkunden angetreten werden" kann.
Gewerkschaften müssten also beispielsweise von einem Notar ihre Mitgliederzahl bestätigen lassen, die Namen der Mitglieder müssen dabei nicht genannt werden. Doch ein solches Auszählungsverfahren anhand von Mitgliederlisten oder -ausweisen dürfte kompliziert werden. Kritiker befürchten, dass solche Angaben leicht zu manipulieren wären. Der Arbeitgeber könne zudem seine Betriebe so zuschneiden, damit die Mehrheitsverhältnisse für ihn passend sind, sagt der Arbeitsrechtler Daniel Schultheis. "Das wäre ungefähr so, wie wenn man den Zuschnitt eines Wahlkreises ändern würde." Eine große Gewerkschaft könnte sich hierbei auch mit dem Arbeitgeber absprechen, um kleinere Konkurrenten auszuschalten.
Was passiert, wenn ein Unternehmen mehrere Betriebe hat?
Das Gesetzen hebt explizit auf Tarifkonflikte innerhalb eines Betriebs ab, nicht innerhalb eines Unternehmens. Bei der Auszählung der Mitgliederzahl konkurrierender Gewerkschaften könnte das dazu führen, dass bei einem Unternehmen mit mehreren Betrieben verschiedene Tarifverträge gelten - je nachdem, welche Gewerkschaft in welchem Betrieb die meisten Mitglieder hat. Bei einem Unternehmen wie der Bahn mit Hunderten Betrieben könnte das dazu führen, dass in manchen Betrieben die EVG die Mehrheit hat, in anderen die GDL und davon abhängig der je andere Tarifvertrag gilt.
Welche verfassungsrechtlichen Bedenken gibt es?
Das Bundesarbeitsgericht hat 2010 festgestellt, dass "die Verdrängung eines Tarifvertrags mit dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit nach Art.9 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren" ist. Eine solche Verdrängung würde aber durch das neue Gesetz faktisch eintreten, weil nach Auszählung der Mitglieder der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit weniger Mitgliedern unter den Tisch fallen würde. Dies werten Kritiker als Verstoß gegen die Verfassung.
Indirekt würde dadurch außerdem das Streikrecht eingeschränkt, beklagen kleine Gewerkschaften. Zum Streik wird zwar im neuen Gesetz explizit gar nichts geregelt. Da die Tarifverträge der kleinen Gewerkschaften letztlich aber keine Gültigkeit hätten, führe dies dazu, so der Vorwurf, dass ein Streik für diese Tarifverträge dann von den Gerichten auch nicht mehr als rechtmäßig eingestuft würde.
Werden Streiks dadurch wirklich verhindert?
Kritiker werfen Ministerin Nahles einen Eingriff in das Streikrecht vor, was sie wiederum vehement zurückweist. Gleich mehrfach betonte die SPD-Ministerin und Ex-Gewerkschaftsfunktionärin: "Das Streikrecht in Deutschland ist ein Grundrecht." Sie habe auch nie versprochen, dass ihr Gesetz zu weniger Streiks bei Lokführern und Piloten führen werde, gab sie im Bericht aus Berlin zu verstehen. Das Gesetz solle lediglich den Druck erhöhen, damit konkurrierende Gewerkschaften sich "gütlich einigen", bevor es zum Streik kommt.
Tatsächlich wird in dem Gesetz vermieden, von Arbeitskämpfen zu reden. In der Begründung heißt es allerdings: "Über die Verhältnismäßigkeit von Arbeitskämpfen, mit denen ein kollidierender Tarifvertrag erwirkt werden soll, wird allerdings im Einzelfall (...) zu entscheiden sein." Ein Arbeitsgericht könnte künftig den Streik einer Spartengewerkschaft also verbieten, wenn der strittige Tarifvertrag am Ende überhaupt nicht zum Einsatz käme.
Der Arbeitsrechtler Preis geht hingegen davon aus, dass das Gesetz keinen einzigen Streik verhindern würde, sondern dass - im Gegenteil - der Kampf zwischen den Gewerkschaften noch angeheizt würde. "Gewerkschaften dürfen und sollen auch künftig zunächst einmal Tarifverträge verhandeln. Sie müssen also mit allen Mitteln darum kämpfen, dass sie die Mehrheit der Mitglieder hinter sich haben und werden mit maximalen Forderungen versuchen, Mitglieder für sich zu gewinnen. Das wird nicht zu einer Beruhigung der Situation führen, sondern zu einer Verschärfung des Arbeitskampfes", sagte er im tagesschau.de-Interview.
Welche Konsequenzen hat das Gesetz für kleine Gewerkschaften?
Nach Auffassung von Experten wird das Gesetz die Rechte kleiner Gewerkschaften deutlich beschneiden. Es würde "die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften eklatant einschränken", meint der ehemalige Verfassungsrichter Thomas Dietrich. Spätestens, wenn die Mehrheitsverhältnisse geklärt seien, könne die kleinere Gewerkschaft keinen Arbeitskampf mehr organisieren. Ein Tarifvertrag, der nicht gelte, könne auch nicht erkämpft werden.
Das Bundesarbeitsministerium hingegen verweist darauf, dass das Gesetz für Streitfälle Verfahrensregeln und das Recht auf Anhörung durch den Arbeitgeber festlegt. Dadurch würden die Interessen der kleineren Gewerkschaften geschützt. Immerhin würden kleinere Gewerkschaften durch das Nachzeichnungsrecht zumindest auch für ihre Mitglieder den Schutz des Tarifvertrags erlangen, sagt der Frankfurter Arbeitsrechtler Thomas Ubber im Gespräch mit tagesschau.de. "Damit laufen Spartengewerkschaften nicht Gefahr, dass ihnen reihenweise die Mitglieder davonlaufen."
Auf lange Sicht könnten kleinere Gewerkschaften geschwächt werden, wenn sie über viele Jahre nur in wenigen Betrieben die Mehrheit haben und dort ihre Tarifverträge durchsetzen können. Und: "Die Gründung neuer Spartengewerkschaften wird erschwert, weil es anfangs sehr schwierig sein dürfte genügend Mitglieder zu werben, um in einem Betrieb die Mehrheit zu bekommen", sagt Ubber. Die viel beschworene Gefahr einer Flut neuer Spartengewerkschaften dämmt das Gesetz also ein. Bestehende Spartengewerkschaften könnten aber erfolgreich weiterarbeiten, da es in vielen Bereichen - beispielsweise bei der Lufthansa - gar keine Konkurrenz zu den großen Gewerkschaften gebe.
Wie stehen die einzelnen Gewerkschaften zum neuen Gesetz?
Die Fronten beim Streit um das Gesetz verlaufen nicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die Gewerkschaften sind untereinander uneins. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hatte noch vor vier Jahren ein Gesetz zur Tarifeinheit gefordert, ist heute aber gespalten. Nach langen Debatten hat sich der DGB für das Gesetz ausgesprochen, obwohl die DGB-Gewerkschaften ver.di, Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sowie Erziehung und Wissenschaft (GEW) dagegen sind, da sie eine Einschränkung des Streikrechts befürchten. Der DGB fordert jedoch deutliche Korrekturen bei wichtigen Details: Es brauche klare Regeln zum Schutz von allgemeinverbindlichen Tarifverträgen. Im Grundsatz unterstützt die DGB-Mehrheit aber Nahles' Anliegen und will zum Grundsatz "Ein Betrieb - ein Tarifvertrag" zurück.
Die Chemiegewerkschaft IG BCE unterstützt das Gesetz, während der Beamtenbund (dbb) und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB) bereits eine Verfassungsklage gegen das Gesetz angekündigt haben.