Hintergrund

Handelsbeziehungen EU-Indien Das späte Erwachen der Europäer

Stand: 25.04.2006 15:23 Uhr

Trotz seines rasanten Wirtschaftswachstums nimmt Indien keinen Spitzenplatz in der europäischen Handelsbilanz ein. Inzwischen erkennt man in der EU an, den Boom auf dem Subkontinent zu spät erkannt zu haben. Jetzt wollen die Europäer aufholen, und indische Unternehmen gehen auf Einkaufstour in Europa.

Von Priya Palsule-Desai, tagesschau.de

Die EU ist Indiens wichtigster Handelspartner. Fast ein Viertel der indischen Handelsbilanz entfällt auf die Europäer. Bei der EU rangiert der Subkontinent dagegen nur auf Platz zwölf. Weit abgeschlagen, wenn man auf den direkten Konkurrenten China schaut, der an Platz zwei steht.

Sebastian Edathy, Vorsitzender der deutsch-indischen Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag, sieht zwei Gründe für diese Entwicklung. "Indien hat später mit einer wirtschaftlichen Liberalisierung begonnen als China, erklärt der SPD-Politiker, "und Fakt ist auch, dass in einer Diktatur kürzere Entscheidungsprozesse herrschen als in einer Demokratie.“ Dennoch ist Edathy zuversichtlich, dass die weltgrößte Demokratie Indien auf lange Sicht der stabilere Partner für die EU sein wird, auch wenn in der Bürokratie und vor allem in der fehlenden Infrastruktur „echte Hindernisse für Investoren liegen“.

Vom Entwicklungsland zum Konsumland

Erst zu Beginn der 1990er-Jahre hat Indien seinen bis dahin abgeschotteten Markt für ausländisches Kapital geöffnet. War der Subkontinent zu Beginn wegen geringerer Lohnkosten ein neuer Outsourcing-Standort für die weltweite IT-Branche, ist das Land nun auf Grund der Englisch sprechenden Fachkräfte in vielen Bereichen auch für die verarbeitende Industrie attraktiv geworden. Bei einer Bevölkerung von über einer Milliarde Menschen und einer wachsenden wohlhabenden Mittelschicht steigen zudem Konsumbedürfnisse und -ausgaben.

Dem Subkontinent wird vorausgesagt, in den nächsten zehn Jahren zum fünftgrößten Absatzmarkt für Automobile aufzusteigen. Das wollen auch europäische Firmen für ihre Produkte nutzen. Vorerst aber hat die Konkurrenz die Nase vorn. Der japanische Autohersteller Suzuki mit seiner Tochterfirma Maruti ist Marktführer. "Indien war lange Zeit ein 'weißer Fleck' auf der Landkarte. Manch deutscher Automobilbauer beispielsweise hat einfach verschlafen, in Indien Fuß zu fassen“, sagt Edathy. Aus seiner Sicht ist es spät, aber noch nicht zu spät für die Europäer.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte bei der Eröffnung der Hannover Messe, dass die strategische Bedeutung des Gastlandes Indiens vielleicht nicht erkannt worden sei. Zu lange hat der europäische Markt sich auf China fokussiert. Doch Indien wird mit rund acht Prozent Wirtschaftswachstum pro Jahr zunehmend eine wichtige Rolle in der Weltwirtschaft spielen.

Auf Shopping-Tour in Europa

Seitdem Indien die Devisenbestimmungen für Unternehmen gelockert hat, ist auch in Europa ein Investitionsboom zu spüren. Aktuell macht der indische Stahlmagnat Lakshmi Mittal Schlagzeilen mit einem 20 Milliarden-Euro-Angebot für die luxemburgische Stahlgruppe Arcelor. Zwar wehren sich die Luxemburger noch gegen die feindliche Übernahme, doch zeigt dieses Beispiel, dass sich das einstige Entwicklungsland zu einem "Global Player“ entwickelt hat.

Im vergangenen Jahr haben indische Unternehmen allein in Europa 192 Übernahmen getätigt. Die Käufe reichen von der Pharmabranche bis hin zu Akquisitionen im Bereich der Windenergie. So hat der führende indische Windturbinenhersteller Suzlon Energy Ltd. erst kürzlich mit dem Kauf der belgischen Hansen Transmission die zweitgrößte indische Auslandsinvestition getätigt.

Mit europäischem Wissen zu Hause wachsen

Die Motive der Investitionen sind branchenspezifisch. Während die indische Pharmabranche sich der Globalisierung stellt, um im eigenen Markt konkurrenzfähig zu bleiben, sind beim Windturbinenhersteller Suzlon andere Gründe für die Expansion in Europa Ausschlag gebend. Vor der Übernahme des belgischen Unternehmens haben die Inder auch die Rostocker Suzlon Energy GmbH gegründet. Ihr Geschäftsführer Wolfgang Conrad, der das Unternehmen in den 1990er-Jahren in Rostock angesiedelt hat, begründet den Einstieg der Suzlon Ltd mit dem Expertenwissen der Deutschen auf dem Gebiet der Windenergie: "Den indischen Kollegen fehlt bisher die langjährige Erfahrung in der Entwicklung der Windtechnologie, die in Deutschland durch die frühe Förderung vorhanden ist.“

Auf Grund der wachsenden Wirtschaft gilt Indien neben China als das Land mit dem am schnellsten steigenden Energieverbrauch. Doch erst zehn Prozent des Windenergiepotenzials Indiens werden genutzt. Mit dem Wissen europäischer Experten will das Unternehmen auf dem heimischen Markt expandieren. Weitere Unternehmenskäufe in Europa sind daher auch zukünftig von der Suzlon Energy Ltd zu erwarten, wie Conrad bestätigt.

Und die "Shopping-Tour“, die so mancher Europäer verwundert wahrnimmt, wird auch in anderen Branchen anhalten. Sebastian Edathy ist davon überzeugt. „Das Indienbild in Deutschland ist nicht aktuell, daher ist man hier häufig über die neuen Entwicklungen überrascht. Der Stahlunternehmer Mittal beispielsweise ist eben ein Wirtschaftsmanager und kein indischer Schlangenbeschwörer. Das kann hier natürlich zu einem Realitätsschock führen, der vielleicht ganz gut ist.“