Fragen und Antworten Das "Advents-Urteil" zur Sonntagsöffnung
Welche Folgen hat das "Advents-Urteil" des Verfassungsgerichts? Dürfen die Läden jetzt sonntags nicht mehr öffnen? Und was hat die Weimarer Republik mit den Öffnungszeiten der Berliner Geschäfte zu tun? tagesschau.de hat Antworten auf diese und andere Fragen zusammengestellt.
Welche Folgen hat das "Advents-Urteil" des Verfassungsgerichts? Dürfen die Läden jetzt sonntags nicht mehr öffnen? Und was hat die Weimarer Republik mit den Öffnungszeiten der Berliner Geschäfte zu tun? tagesschau.de hat Antworten auf diese und andere Fragen zusammengestellt.
Worüber wurde genau gestritten?
Urheber der Verfassungsbeschwerden sind die beiden großen Kirchen. Sie verweisen auf das Grundgesetz und sehen in dem Ladenschlussgesetz das vom Grundgesetz garantierte Recht auf freie Religionsausübung verletzt und den ebenfalls von der Verfassung gewährten Schutz der Arbeitsruhe und Erholung am Sonntag. Konkret berufen sie sich auf die Artikel 4 und 140 des Grundgesetzes. Letzterer verweist auf Teile der Weimarer Reichsverfassung von 1919, die noch in Kraft sind.
Was steht denn im Grundgesetz?
In Artikel 4 des Grundgesetzes heißt es: "(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet."
Artikel 140 lautet folgendermaßen: "Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes."
Der sogenannte Weimarer Kirchenartikel 139 ist letztlich die Folge eines jahrzehntelangen Kampfes der Kirchen, aber auch der Sozialdemokraten um eine besondere Gewährleistung der Arbeitsruhe am Sonntag. Sein Wortlaut: "Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt."
Und was steht im "Advents-Urteil"?
Im Kern geht es nicht um die vergleichsweise hohe Zahl verkaufsoffener Sonntage in Berlin. Den Verstoß gegen das Grundgesetz sehen die Richter in der Tatsache, dass die Ladenöffnung an allen vier Adventssonntagen ohne irgendwelche Voraussetzungen gestattet wird.
Die Bedeutung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts geht dabei weit über religiöse Aspekte hinaus. "Die Sonn- und Feiertagsgarantie fördert und schützt nicht nur die Ausübung der Religionsfreiheit", heißt es im Urteil. Die Gewährleistung der Arbeitsruhe sei "auch Garant für die Wahrnehmung von anderen Grundrechten, die der Persönlichkeitsentfaltung dienen". So diene die Arbeitsruhe "der physischen und psychischen Regeneration und damit der körperlichen Unversehrtheit".
Die Karlsruher Richter bei der Urteilsverkündung zum Ladenschluss
Die Sonn- und Feiertagsgarantie komme zudem dem Schutz von Ehe und Familie zugute. Im Vordergrund stehe die "synchrone Taktung des sozialen Lebens", sprich: die Garantie des letzten gemeinsamen freien Tags - für den Familienausflug, für die Pflege von Freundschaften, für das Vereinsleben. Das Gericht hatte in der Anhörung im Juni zudem Arbeitswissenschaftler zu Wort kommen lassen, die dem freien Sonntag große Bedeutung für die Gesundheit der Arbeitnehmer beimessen. Sogar die Demokratie führen die Richter ins Feld - gewählt werde normalerweise sonntags.
Schließlich habe diese grundgesetzliche Garantie einen besonderen Bezug zur Menschenwürde, "weil sie dem ökonomischen Nutzendenken einen Grenze zieht und dem Menschen um seiner selbst willen dient".
Welche Auswirkungen hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts?
In diesem Jahr ändert sich für die Berliner Einzelhändler und die Kunden, die in der Hauptstadt an den Adventssonntagen einkaufen gehen wollen, nichts mehr. Im kommenden Jahr muss der Senat aber für eine verfassungsgemäße Regelung sorgen. Acht gut verteilte und gerechtfertigte Shopping-Sonntage pro Jahr dürften nach wie vor erlaubt bleiben, selbst die Adventszeit ist nicht tabu. Nur eben nicht mehrere hintereinander.
Welche Folgen hat das Urteil für die anderen Bundesländer?
Das Berliner Ladenschlussgesetz geht bisher deutlich über die Regelungen in anderen Ländern hinaus und lässt verkaufsoffene Sonntage bis zu zehn Mal im Jahr zu, darunter an allen vier Adventswochenenden. Andernorts ist eine Sonntagsöffnung zumeist nur vier Mal im Jahr und größtenteils auch nicht im Dezember erlaubt. Damit dürfte das Urteil dort kaum Folgen haben.
Die Regelungen zum Ladenschluss in Deutschland sind seit 2006 Sache der Bundesländer. Berlin hat von dieser Möglichkeit am großzügigsten Gebrauch gemacht.
An allen vier Adventssonntagen dürfen dort die Läden bislang zwischen 13 und 20 Uhr öffnen, an vier weiteren Sonn- und Feiertagen darf der Berliner Senat die Ladenöffnung "im öffentlichen Interesse" verfügen - ohne Uhrzeitbegrenzung. Hinzu kommen zwei weitere Sonn- oder Feiertage, an denen die Geschäfte aus Anlass "besonderer Ereignisse" von 13 bis 20 Uhr öffnen dürfen.
Die meisten anderen Länder geben nur vier Sonn- und Feiertage frei, in Baden- Württemberg sind es drei, in Brandenburg sechs. Daneben gibt es allerdings Ausnahmeregelungen, beispielsweise für Kurorte.
Die Liberalisierung des Ladenschlusses begann 1956, als der "lange Samstag" eingeführt wurde. 1989 kam der "Dienstleistungsabend" mit einer Donnerstags-Öffnung bis 20.30 Uhr. Von 1996 an durfte samstags bis 16 Uhr geöffnet werden, seit 2003 bis 20 Uhr. Seit 2006 dürfen Läden in den meisten Bundesländern werktags rund um die Uhr öffnen.
Als Konsequenz aus dem Urteil im benachbarten Berlin kündigte die brandenburgische Landesregierung nun eine Überarbeitung ihres eigenen Ladenschlussgesetzes an. Dort sind bislang sechs verkaufsoffene Sonntage möglich, darunter ebenfalls die im Advent.
Warum gibt es in den Bundesländern so unterschiedliche Regelungen?
Die Regelungen zum Ladenschluss in Deutschland ist seit einiger Zeit Sache der Bundesländer. Im Zuge der Föderalismusreform hatte der Bund die Zuständigkeit 2006 abgegeben. Doch auch das Verfassungsgericht ist nicht völlig unbeteiligt: Bereits in einer früheren Entscheidung zum Ladenschluss hatte es ausdrücklich die Rechte der einzelnen Bundesländer gestärkt und das damals noch bundeseinheitlich geltende Ladenschlussgesetz in Frage gestellt.
Wie begründen die Befürworter einer großzügigen Regelung ihre Haltung?
An dem verfassungsrechtlich garantierten Sonntagsschutz wollte der Einzelhandel nach eigenen Angaben ohnehin nie rütteln. Einzelne verkaufsoffene Sonntage als Ausnahme seien dagegen unverzichtbar und auch im Sinne der Mitarbeiter. Im Fall Berlins kommt aus Sicht der Unterstützer liberaler Öffnungszeiten die besondere Rolle der Hauptstadt hinzu. Schließlich seien die Besucherströme aus dem In- und Ausland nach Berlin europaweit nur mit denen nach Paris und London zu vergleichen, sagt beispielsweise die Vizepräsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, die SPD-Politikerin Karin Seidel-Kalmutzki.