Bagger stehen auf der Baustelle für das Intel-Werk in Magdeburg

Konjunkturprognosen Ist der Osten die "Wachstumslokomotive" Deutschlands?

Stand: 10.07.2024 07:59 Uhr

Die ostdeutsche Wirtschaft wird in diesem und im kommenden Jahr stärker wachsen als die gesamtdeutsche. Mit Tesla, Intel und TSMC siedeln sich Global Player im Osten an. Wird der Osten zum Wachstumsmotor?

Von Lilli-Marie Hiltscher, ARD-Finanzredaktion

Es sind erstaunliche Zahlen, die das ifo-Institut veröffentlicht hat: Die Wirtschaft in Ostdeutschland dürfte in den nächsten Jahren im Vergleich zur gesamtdeutschen Wirtschaft überdurchschnittlich zulegen. 2024 rechnen die Forscher mit einem Wachstum von 1,1 Prozent in den neuen Bundesländern, 2025 dann mit 1,7 Prozent. Zum Vergleich: Die gesamtdeutsche Wirtschaft wird laut der Prognose der ifo-Experten in diesem Jahr nur um 0,4 Prozent wachsen, im kommenden Jahr dann um 1,5 Prozent.

Damit wächst die ostdeutsche Wirtschaft in diesem und im kommenden Jahr deutlich stärker als die gesamtdeutsche. Und das hat gleich mehrere Gründe, erklärt Joachim Ragnitz, stellvertretender Leiter der ifo Niederlassung Dresden: "Vor allem bei den konsumnahen Dienstleistern sehen wir in Ostdeutschland ein starkes Wachstum."

Kaufkraft im Osten stärker gestiegen

Hinzu kommen aber auch andere Effekte, die derzeit die hohen Wachstumsraten im Osten begründen, aber kaum zu einem dauerhaft hohen Wirtschaftswachstum führen werden. "Wir hatten im Jahr 2023 noch immer unterschiedlich hohe Rentenanpassungen in Ost und West", erklärt Oliver Holtemöller, Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) im Gespräch mit tagesschau.de. Zum 1. Juli 2023 wurden die Renten im Westen um 4,39 Prozent und im Osten um 5,86 Prozent erhöht.

"Das führt dazu, dass Rentnerinnen und Rentner mehr Geld in der Tasche haben und damit auch die Konsummöglichkeiten steigen. Und da es im Osten eine höhere Rentnerquote gibt, schlägt sich diese Anpassung deutlicher nieder als im Westen." Einen ähnlichen Effekt habe laut Holtemöller auch eine Mindestlohnanhebung: "Da im Osten mehr Menschen von der Anhebung des Mindestlohns profitieren, steigt die Kaufkraft im Osten im Verhältnis stärker als im Westen."

Doch gerade die erhöhte Kaufkraft, die sich durch die höhere Rentenanpassung ergebe, werde ab diesem Jahr nicht mehr in den Wachstumsraten sichtbar sein, so Holtemöller. Denn im vergangenen Jahr wurden die Rentenwerte angeglichen - künftig steigen die Renten also in Ost und West um den gleichen Prozentsatz.

Ostdeutsche Wirtschaft weniger exportabhängig

Neben einer höheren Kaufkraft gibt es einen weiteren Effekt, der die Wirtschaftsleistung im Osten stärker hat wachsen lassen als die im Westen: Die in Ostdeutschland ansässige Industrie ist "weniger stark von Produktionseinschränkungen betroffen", so Joachim Ragnitz vom ifo-Institut.

Das beschreibe auch den fundamentalen Unterschied der Industrien, die in Ost und West hauptsächlich angesiedelt sind, sagt Klaus-Heiner Röhl, Regionalökom beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) zu tagesschau.de: "Die Wirtschaft im Osten ist vor allem auf Binnenkonsum ausgerichtet, während westdeutsche Industrien stark am Export hängen. In konjunkturell schwachen Phasen wie wir sie gerade erleben, ist die westdeutsche Wirtschaftsleistung von einem solchen Einbruch deutlich stärker betroffen als die ostdeutsche."

Das sei eine Entwicklung, die sich laut dem Experten des IW bereits seit Jahren immer wieder beobachten ließe: "Gerade Bundesländer wie Bayern und Baden-Württemberg haben stark exportabhängige Industrien, vor allem Autoindustrie und Maschinenbau." In Bayern etwa haben rund ein Viertel der deutschen DAX-Unternehmen ihren Sitz, dazu zählen weltweit aktive Unternehmen wie Adidas, BMW oder Siemens.

Ansiedlungen von Global Playern

Doch auch in Ostdeutschland siedeln sich immer mehr international tätige Firmen an - Global Player wie Intel oder TSMC planen den Bau großer Produktionsstandorte in ostdeutschen Bundesländern. Tesla ist bereits einen Schritt weiter und hat in Grünheide in Brandenburg seinen ersten Produktionsstandort in Europa eröffnet, beschäftigt dort derzeit mehr als 12.000 Mitarbeiter. "Diese Ansiedlung hat das Wirtschaftswachstum in Brandenburg beschleunigt", erklärt Oliver Holtemöller vom IWH im Gespräch mit tagesschau.de.

Allerdings führen Ansiedlungen wie die von Tesla in Brandenburg zunächst nur zu einem kurzfristigen Effekt: "Es findet eine Niveauverschiebung des BIPs statt - wir werden also eine höhere Wirtschaftsleistung in Brandenburg sehen, die aber nicht jedes Jahr mit so hohen Wachstumsraten wie zum Zeitpunkt des Ansiedelung einhergeht", so Holtemöller. Der Effekt dieser Tesla-Ansiedlung dürfte sich also künftig kaum noch in den Wachstumsraten Brandenburgs zeigen.

Chance oder Risiko?

Zumal gerade Ansiedlungen wie die von Intel und TSMC auch Risiken bergen, so Holtemöller: "Diese Firmen siedeln sich nur an, weil sie Milliarden an Subventionen vom deutschen Staat dafür erhalten. Das birgt die Gefahr, dass es zu Mitnahmeeffekten kommt oder dass die Firmen solche Standorte wieder schließen oder massiv herunterfahren, wenn Subventionen auslaufen."

Damit diese Ansiedlungen zur Chance für die Regionen werden, müsse nun auch die Landesregierung aktiv etwas dafür tun: "Vor allem sollte das Erwerbspersonenpotenzial gestärkt werden, zum Beispiel, indem die Schulabbrecherquote gesenkt wird, die im Osten etwa doppelt so hoch wie im Westen ist. Oder indem die Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt verbessert wird", betont Holtemöller. Ähnlich sei das beim Thema Toleranz: "In Sachsen-Anhalt sind derzeit nur etwa acht Prozent der Beschäftigten Ausländer. Mehr Toleranz und Vielfalt könnten sich positiv auf die Innovationsfähigkeit und damit auf den wirtschaftlichen Erfolg auswirken."

Klaus-Heiner Röhl vom IW betont, dass vor allem bei der Intel-Ansiedlung in Magdeburg das Anwerben ausländischer Fachkräfte schwierig werden könnte: "Der Tesla-Standort in Grünheide ist natürlich auch wegen der Nähe zu Berlin gewählt worden. Für ausländische Fachkräfte ist das attraktiv, denn Grünheide ist nicht mal eine Stunde von Berlin entfernt - und gehört damit noch zum Speckgürtel der Stadt." Das sei ein Argument, dass sich auf das Intel-Werk bei Magdeburg aber nicht anwenden lasse.

16 Prozent Anteil am gesamtdeutschen BIP

Wird die ostdeutsche Wirtschaft nun also zum Wachstumstreiber für Gesamtdeutschland? Die Zahlen des ifo-Instituts, die auf den ersten Blick nach hervorragenden Nachrichten aussehen, relativieren sich bei genauerem Hinsehen schnell - und nicht nur wegen der zahlreichen Argumente, die zeigen, dass Wachstum lediglich ein kurzfristiger konjunktureller Effekt ist.

"Ostdeutschland hat einen Anteil von 16 Prozent am gesamtdeutschen Bruttoinlandsprodukt. Das bedeutet: Rechnerisch gehen 0,1 Prozentpunkte der gesamtdeutschen Wachstumsrate auf Ostdeutschland zurück", sagt Ragnitz zu tagesschau.de. Das bedeutet auch: Als 'Motor der gesamtdeutschen Wirtschaft' lasse sich die ostdeutsche Wirtschaft laut Ragnitz "deswegen sicherlich nicht bezeichnen".

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 09. Juli 2024 um 13:19 Uhr.