Folgen der Geldschwemme Warnung vor den "Zombie"-Firmen
Die lockere Geldpolitik der EZB schmälert seit Jahren die Ersparnisse der Verbraucher. Jetzt wird immer deutlicher: Der Kurs der Zentralbank bringt auch für Europas Wirtschaft Risiken mit sich.
Neues Geld zur Ankurbelung der angeschlagenen Konjunktur entsteht bei der Europäisches Zentralbank eher geräuschlos und unspektakulär. Zur Bekämpfung der Krise kauft die Notenbank weder meterhoch Papier noch tonnenweise Farbe, um damit neue Geldscheine zu drucken. Ihre Lieferwagen transportieren auch kein Bargeld aus den Katakomben des Eurotowers. Und im Keller steht auch keine Notenpresse, die vor sich hin rattert, heiß läuft und kräftig dampft. Nein, Zentralbank-Geld entsteht in der Regel mit ein paar Mausklicks am Computer - und in Zeiten von Corona sogar im Homeoffice. Die EZB produziert so Buchgeld, schreibt es in ihre Bücher und verteilt es auf den Märkten.
Fast zwei Billionen nur für PEPP
1,85 Billionen Euro entstehen auf diese Weise allein zur Pandemie-Bekämpfung fast beiläufig. Für diese gewaltige Summe kauft die EZB Anleihen auf den internationalen Finanzmärkten in ihrem eigens für die Coronavirus-Pandemie aufgelegten PEPP-Programm: Staatsanleihen zum Beispiel, mit denen die Euro-Länder Geld für ihren Haushalt einnehmen. Kommunale Anleihen, mit deren Erlösen Gemeinden ein neues Wasserwerk oder die Sanierung ihres Rathauses finanzieren. Und Unternehmensanleihen, mit deren Einnahmen Firmen zum Beispiel die Entwicklung neuer E-Autos, sparsame Waschmaschinen oder ausgefallene Schoko-Kreationen finanzieren. Manche dieser Anleihen haben beste Kreditwürdigkeit und gehen weg wie warme Semmeln. Andere sollte man lieber nicht im Depot haben. Die EZB kauft sie trotzdem, wenn sie gewisse Kriterien nicht unterschreiten.
Das viele Geld, das so in den Kreislauf fließt, soll die Wirtschaft am Laufen halten. Es ermöglicht Banken, Unternehmen günstig Kredite zu geben, damit sie weiter existieren und hoffentlich bald auch wieder expandieren können. Es senkt insgesamt das Zinsniveau, weil die Notenbank ja fast alles kauft und die die Emittenten ihre Anleihen leicht los werden: Sie müssen also nur geringe Zinsen zahlen. Und es versorgt schließlich das gesamte System mit ausreichend Liquidität, damit es nicht zu Engpässen kommt.
Seit der Finanzkrise sieht die EZB wie andere Notenbanken in den Anleihekäufen ein Patentrezept, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Wirklich gelungen ist ihr das nicht. Aber wenigstens konnte sich die Konjunktur zeitweise etwas erholen und rutschte nicht völlig ab.
Risiken und Nebenwirkungen
Die Nebenwirkungen dieser Geldpolitik sind überall sichtbar: An den Aktienmärkten explodieren die Kurse, als ob es kein Morgen gibt. Wegen fehlender Renditen strömt das Geld an die Börsen. An den Immobilienmärkten wird das Eigenheim zum kaum erschwingbaren Luxus-Objekt. Schließlich produziert die schiere Masse an Liquidität langfristig auch Inflation, entwertet also das Geld, wenn man es nicht rechtzeitig wieder einsammelt. Erste Anzeichen sind real bereits spürbar.
Eher im Verborgenen entwickelt sich aber auch noch ein anderes Phänomen, das bislang wenig Beachtung fand. Experten nennen es die "Zombisierung" von Teilen der Wirtschaft - eine Entwicklung, die langfristig große Schäden auslöst und das Wohlfahrts-Niveau weiter senken dürfte. Der etwas gruselige Begriff beschreibt Unternehmen, denen das viele billige Geld der EZB das Überleben sichert, obwohl sie unter normalen Umständen schon längst pleite wären. Entweder, weil ihre Geschäftsidee veraltet ist oder sie sich sich neuen Gegebenheiten nicht anpassen können. Oder schließlich, weil sie schlichtweg ineffizient arbeiten. Es sind also Unternehmen, die ihre Zinsen nicht mehr aus den laufenden Gewinnen zahlen können und deshalb Insolvenz anmelden müssten. Doch unter den gegenwärtigen Bedingungen erhalten sie leicht weitere Kredite, aus denen sie ihre Zinsen bedienen können.
Tausende "Zombie"-Unternehmen allein in Deutschland?
Das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft schätzt, dass allein in Deutschland im Zuge der Pandemie rund 5000 solch "scheintoter" Unternehmen entstanden sind. Ihre Abwicklung wird auch dadurch verhindert, weil hierzulande die Pflicht zur Insolvenzmeldung derzeit ausgesetzt ist. Weltweit dürfte der Anteil solcher "Zombie"-Unternehmen mittlerweile bei rund 18 Prozent liegen, schätzt die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel (BIZ), der Notenbank der Notenbanken und sozusagen Mutter der gesamten Zentralbankwelt. Dieser Wert ist der höchste jemals gemessene. Vor der Krise lag er bei zwölf Prozent. Zum Teil ist dies durch die Coronakrise bedingt. Doch die BIZ-Experten haben errechnet, dass rund 70 Prozent dieser Unternehmen auch ohne das Virus keine Chance mehr haben, wieder auf die Beine zu kommen. Sie würden stattdessen mit dem billigen Geld künstlich am Leben gehalten.
Schon seit Jahren sieht die BIZ diese Entwicklung mit großer Sorge. Deshalb fordert sie ihre Mitglieder auch immer wieder auf, die lockere Geldpolitik zu beenden und zu angemessenen Zinsniveaus zurückzukehren. Denn aus volkswirtschaftlicher Sicht ist das Durchschleppen kranker und unproduktiver Unternehmen langfristig tödlich, weil es die Wohlfahrt von Gesellschaften senkt und damit auch die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet.
Innovation ausgebremst, Dynamik gelähmt
Die durch die EZB-Politik zumindest verstärkten strukturellen Probleme der europäischen Wirtschaft lassen sich entsprechend in nackten Zahlen ablesen: So stagniert die Produktivität der Arbeitnehmer in Europa seit Jahren und ging in der Krise weiter zurück. Auch die Zahl der Firmen-Neugründungen, insbesondere in Deutschland, ist rückläufig. Im Land der Tüftler und Erfinder stagniert auch das Volumen an Patentanmeldungen.
Faktisch führt die Geldpolitik der EZB mit dazu, dass die Wirtschaftsdynamik in der Eurozone erlahmt, weil die "scheintoten" Unternehmen das System verstopfen. Denn sie besetzten Marktbereiche und erschweren damit neuen, innovativen Unternehmen den Zutritt. "Zombie"-Unternehmen binden Kapital, Expertise und Facharbeiter, die an andere Stelle fehlen, um Neuentwicklungen auf den Weg zu bringen.
Schon seit Jahren warnt auch die OECD vor diesen Entwicklungen und macht immer wieder deutlich, dass vor allem Europa im globalen Wettbewerb dadurch zurückfällt. Denn um mit einem aggressiven China und den selbstbedachten USA mithalten zu können, braucht es funktionierende, dynamische Wirtschaften in Europa, die sich durch hohe Innovationskraft auszeichnen. Andernfalls sind sie langfristig nicht wettbewerbsfähig. Genau dies verhindert aber die gegenwärtige Geldpolitik.
EZB fürchtet Turbulenzen an den Finanzmärkten
Bei der EZB ist man sich dieser Zusammenhänge durchaus bewusst. Doch bei der Wahl zwischen Pest und Cholera hält man lieber an der jetzigen Politik fest. Auch nur der Anschein einer Veränderung der Geldpolitik löst an den Finanzmärkten sofort Unruhe aus, wie der Anstieg der Anleiherenditen vor wenigen Wochen als Folge höherer Inflationsraten zeigte. Zwar hat die EZB nicht in erster Linie das Wohl der Finanzmärkte im Blick. Doch schwere Turbulenzen dort haben auch immer sehr negative Folgen für die Realwirtschaft - insbesondere für den Arbeitsmarkt.
So wird EZB-Chefin Christine Lagarde wohl auch in dieser Woche nach der Ratssitzung versichern, dass die ultra-lockere Geldpolitik fortgesetzt wird. Tatsächlich wurde das Tempo der Anleihe-Käufe in den vergangenen Wochen - wie im März angekündigt - deutlich erhöht. Die EZB hält diese Geldpolitik für einen Segen. Doch wie sehr der langfristig zum Fluch für die Wirtschaft wird, wird man erst in Jahren beurteilen können.