Hohe Inflationsrate Die Angst vor der Lohn-Preis-Spirale
Sparer und Verbraucher erleiden derzeit Monat für Monat neue Inflationsschocks. Die EZB beruhigt und prophezeit für 2022 niedrigere Teuerungsraten. Doch was passiert, wenn die Lohn-Preis-Spirale einsetzt?
Lange war Inflation kein großes Thema. Die Teuerungsrate verharrte jahrelang bei unter einem Prozent hierzulande - und trieb die Europäische Zentralbank (EZB) fast zur Verzweiflung. Denn die Geldwächter streben mittelfristig im Euro-Raum eine Inflation von zwei Prozent an, um stabile Preise zu erreichen.
Die Corona-Pandemie hat die Lage radikal verändert. In diesem Jahr ist die fast schon tot geglaubte Inflation neu erwacht. Im November kletterte die Teuerung erstmals seit 29 Jahren wieder über die Marke von fünf Prozent.
Der "Ketchup-Effekt"
Einige Ökonomen fühlen sich bestätigt. Mit der Inflation sei es wie mit dem Ketchup: Lange Zeit klopfe man auf die Flasche, ohne dass sich etwas tue, und plötzlich spritze auf einmal alles aus der Flasche.
Die EZB indes sieht keinen Anlass zur Sorge. Es gebe keine Hinweise darauf, dass die Inflation außer Kontrolle gerate, erklärte Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel gestern im gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF. "Wir gehen davon aus, dass im November der Höhepunkt der Inflationsentwicklung erreicht ist", sagte die Währungshüterin. Die Teuerungsrate dürfte 2022 wieder allmählich in Richtung zwei Prozent sinken, der EZB-Zielmarke. Sondereffekte wie die Mehrwertsteuersenkung in Deutschland im vergangenen Jahr würden ab Januar aus der Statistik fallen. Und auch die Energiepreise werden nicht weiter so rasant steigen wie 2021, glaubt Schnabel.
EZB spielt Risiken herunter
EZB-Präsidentin Christine Lagarde hält die hohe Teuerung im Euro-Raum für eine temporäre Erscheinung und sieht sie vor allem als ein deutsches Phänomen. Die vorübergehende Absenkung und Wiederanhebung der Mehrwertsteuer hierzulande mache derzeit etwa 1,2 Prozentpunkte an der deutschen Inflationsrate aus, erklärte sie unlängst auf dem virtuellen European Banking Congress in Frankfurt. Von Juli bis Dezember würden bei der Messung der Inflation Preise mit der höheren Mehrwertsteuer aus diesem Jahr mit denen mit der niedrigeren Steuer 2020 verglichen.
Top-Banker und Ökonomen widersprechen Lagarde. "Diese Inflation wird länger anhalten, und die Inflationsraten werden höher bleiben als viele denken", sagte Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing auf dem Frankfurter Banken-Kongress. Auch Commerzbank-Chef Manfred Knof betont, die Inflation sei gekommen, um zu bleiben.
Ökonomen: Inflation bleibt auch 2022 hoch
"Die EZB spielt die Inflationsrisiken herunter“, moniert Gertrud Traud, Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen (Helaba). Dass die hohe Inflation nur an Deutschland liege, sei falsch. Sie verweist auf noch höhere Teuerungsraten unter anderem in den baltischen Staaten. Traud bezweifelt, dass die Inflation nur temporär ist. Für 2022 prophezeit sie, dass die Verbraucherpreise ähnlich stark zulegen wie im Vorjahr - um 2,4 Prozent in der Eurozone und um 2,7 Prozent in Deutschland.
Ähnlich sieht das Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Zwar werde die Inflation aus technischen Gründen nach der Jahreswende sinken, da der Mehrwertsteuereffekt wegfalle. Aber der Rückgang dürfte nur vorübergehend sein, glaubt er. "Danach wird es ein langsames Hochdriften geben - mit einer klaren Richtung." In ein paar Jahren "werden die Teuerungsraten dann deutlich über zwei Prozent liegen", prophezeite er jüngst. Er sieht vor allem die EZB als Inflationstreiber, die mit ihren Anleihekäufen viel Geld in den Umlauf bringt.
Die Leute kaufen aus Angst
Zwar würden Lieferengpässe Mitte des nächsten Jahres überwunden sein, aber es gebe dann neue Effekte, die die Teuerung verstärken, meint Ex-ifo-Chef und Buchautor Hans-Werner Sinn. Die "Huckel-Inflation" verändere die Inflationserwartungen. "Die Leute bekommen Angst, dass es teurer wird. In Erwartung von Preissteigerugen in der Zukunft kaufen sie vorher", sagte er im Interview mit der "Welt". Die höhere Nachfrage treibe dann die Preise von neuem. Vor allem drohe eine Lohn-Preis-Spirale.
Steigende Verbraucherpreise treiben die Arbeitnehmer dazu, höhere Löhne und Gehälter zu fordern, damit sie nicht an Kaufkraft verlieren. "Die Gewerkschaften werden nächstes Jahr bei den Lohnverhandlungen die Inflation von diesem Jahr auf ihre Forderungen obendrauf schlagen", mutmaßt Ökonom Sinn. Prompt dürften "die Firmen gezwungen sein, wegen der gestiegenen Kosten die Preise zu erhöhen". "Derzeit wollen so viele Firmen in Deutschland wie nie zuvor ihre Preise erhöhen", sagt Timo Wollmershäuser, Leiter Konjunkturprognosen beim ifo-Institut. Laut Umfrage planen 45 Prozent der Unternehmen, in den kommenden drei Monaten an der Preisschraube zu drehen.
Droht eine Lohn-Preis-Spirale wie in den 70ern?
Manche Experten ziehen schon Parallelen zu den 1970er Jahren. Damals nutzten die Gewerkschaften die Inflation als Argument, um Lohnerhöhungen von bis zu 14 Prozent durchzusetzen. Christoph Schröder, Ökonom vom Institut der deutschen Wirtschaft, hat in historischen Untersuchungen beobachtet, dass stark steigende Preise stets deutliche Lohnerhöhungen mit sich brachten. Das sei nicht nur in den 1970er Jahren, sondern auch in den 1990er Jahren nach der Wiedervereinigung der Fall gewesen.
Tatsächlich deutet die Einigung beim Tarifabschluss im öffentlichen Dienst auf höhere Lohnforderungen hin. Die rund 1,1 Millionen Tarifbeschäftigten der Länder bekommen 2,8 Prozent mehr Geld. ING-Chefvolkswirt Carsten Brzeski sieht in dem Abschluss einen Hinweis auf eine "sanfte Lohn-Preis-Spirale".
"Gefahr nicht zu unterschätzen"
"Die Gefahr, dass in diesem Jahr eine Lohn-Preis-Spirale in Gang kommt, ist nicht zu unterschätzen", sagt Holger Bonin vom Institut zur Zukunft der Arbeit gegenüber tagesschau.de. "Die Beschäftigten spüren den Anstieg der Lebenshaltungskosten mittlerweile ziemlich deutlich in ihrem Alltag und dürften dafür einen Ausgleich fordern. Und wie es aussieht, geben momentan viele Unternehmen ihre steigenden Kosten über die Preise an die Kunden weiter. So kann sich die Spirale nach oben drehen."
Ökonom Marcel Fratzscher hält solche Ängste für übertrieben. "In den vergangenen 30 Jahren ist der Anteil der Löhne an den Wirtschaftsleistungen in Deutschland leicht gesunken." Eine Lohn-Preis-Spirale wie in den 1970er Jahren mit Inflationsraten von sieben oder acht Prozent sehe er nicht.
Spirale in den USA schon in Gang gekommen
Wie schnell eine Lohn-Preis-Spirale in Gang kommen kann, zeigen die USA. Dort hat sich nach Beobachtung von Commerzbank-Chefvolkswirt Krämer der Anstieg der Arbeitskosten massiv beschleunigt. "In den USA zeichnet sich ein breit angelegter Preisanstieg ab."
Auch in Deutschland gibt es vereinzelt schon Anzeichen für deutliche Lohnanhebungen. Auf einem Mittelstandskongress in Süddeutschland berichteten jüngst Vertreter über Tech-Unternehmen in München, die Fachkräfte mit Gehaltssteigerungen von über zehn Prozent anzulocken versuchten. Wie war das noch mit dem "Ketchup-Effekt"?