150 Jahre japanische Bahn Pünktlich, sauber - aber nicht zukunftsorientiert?
In Japans Schnellzügen sitzt man immer in Fahrtrichtung und kommt in 99 Prozent der Fälle pünktlich zum Ziel. Doch 150 Jahre nachdem im Land die ersten Züge starteten, gibt es auch Probleme.
Bahnhof Tokio. Ein Shinkansen fährt ein. Endstation. Bevor er weiterfährt, bleibt der Schnellzug genau zwölf Minuten im Gleis stehen. Wakana Hamada vom Reinigungsunternehmen Tessei steht schon am Zug, verbeugt sich und hält dann den aussteigenden Fahrgästen eine Plastiktüte für ihren Müll hin. Einmal im Waggon, hat die 34-Jährige sieben Minuten Zeit für etwa 90 Sitzplätze. Da muss jeder Handgriff sitzen: "Nachdem die Sitze in Fahrtrichtung gedreht sind, desinfiziere ich jeden Tisch, dann kümmere ich mich um den Boden. Am Schluss kontrolliere ich nochmal, ob alles ordentlich ist", sagt sie kurz und knapp.
Auch das Putzen durchgetaktet
Sie hetzt durch den Waggon. Tisch runter, ein kurzer Wisch, klapp, wieder hoch, Nackenlehne runter, dann zurück, den Besen holen, durch alle Sitzreihen bis ans Ende, wieder zurück, dann nochmal alle Sitze kontrollieren, hier und da noch ein Kopflätzchen wechseln, aussteigen und wie am Anfang vor den Fahrgästen verbeugen. "Das ist sehr stressig und anstrengend, aber ich gebe mir Mühe", sagt sie.
Das Unternehmen Tessei reinigt pro Tag 170 Züge. "Im Jahr sind das 63 Millionen Sitze", sagt der stellvertretende Geschäftsführer Fumiaki Dobashi. Arbeit gebe es genug, aber es sei schwer Personal zu finden, weil der Putzjob immer noch einen schlechten Ruf habe. Die genauen Vorgaben für die Zugreinigung stehen ein Stück weit stellvertretend für die Organisation der Bahn, mit all den Vor- und Nachteilen.
Durchorganisiert und pünktlich
1872 wurde in Japan die erste Bahnstrecke eröffnet, damals war allerdings so gut wie alles aus Großbritannien importiert. Dann, 1964, pünktlich zu den Olympischen Spielen, fuhr der erste Shinkansen los. Von Tokio nach Osaka mit eigener Trasse.
Die eigenen Trassen sind der Hauptgrund dafür, dass die Züge nahezu immer pünktlich sind. Aber nicht nur, sagt Kiyohito Utsunomiya, Wirtschaftsprofessor an der Universität Kansai, im Interview mit der ARD: "Pünktlich zu sein ist für uns eine Selbstverständlichkeit." Und selbst wenn der Zug nur eine Minute verspätet sei, entschuldige man sich dafür, das sei normal.
40 Cent Lohnkürzung sorgte für viel Aufmerksamkeit
"Darauf werden auch die Lokführer trainiert", so Makoto Maekawa von der Gewerkschaft West Japan Railway. Hohe Erwartungen, die, wenn man sie nicht erfüllt, nicht nur eine tiefe Verbeugung, sondern auch Nachsitzen und Schreiben von Entschuldigungsbriefen nach sich ziehen.
Oder sogar eine Lohnkürzung, wie ein Fall im Sommer 2022 gezeigt hatte. Einem Lokführer waren für eine minimale Verspätung 40 Cent vom Lohn abgezogen worden. Er klagte dagegen, gewann zwar den Prozess, erhielt die 40 Cent zurück, aber keinen Schadenersatz. Ändern dürfte sich deshalb also auch in Zukunft nichts.
Kompliziertes Netzwerk
Die japanische Bahn, das ist ein kompliziertes Geflecht aus vielen verschiedenen Anbietern. 1987 wurde die hochverschuldete Staatsbahn privatisiert. Daraus entstanden sechs JR-Firmen. "JR" steht für Japan Railways, als japanische Bahnen. Hinzu kommen rund 50 weitere Privatanbieter.
Die Bahn ist mit rund 1,5 Milliarden Fahrgästen pro Monat zwar nach wie vor das wichtigste Verkehrsmittel; doch es gibt ein erhebliches Gefälle bei der Versorgung. Die Ballungsräume sind gut vernetzt, die ländlichen Regionen bieten hingegen immer weniger Service, fahren jährlich Millionenverluste ein. So macht zum Beispiel die JR West jährlich umgerechnet 4,6 Millionen Euro Defizit. "Die Bevölkerungszahlen sind rückläufig, die Gesellschaft altert, und die Bahn steht in Konkurrenz zum Auto". Deshalb so, Verkehrsexperte Utsunomiya, gingen Umsatz und Gewinn zurück.
Eins bedingt das andere. Weniger Fahrgäste, das heißt weniger Service. Utsonomiya spricht von einer Abwärtsspirale und wirbt dafür, die Bahnen in ländlichen Regionen wieder in die kommunale beziehungsweise städtische Hand zu übergeben. "Die Bahn sollte Allgemeingut sein, denn sie ist Teil der Mobilität und erhöht die Lebensqualität." Zwar habe es dazu erste Gespräche gegeben, konkret sei jedoch noch nichts.
Vernetzt denken - von Deutschland lernen
Gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung sollte sich Japan aus Sicht des Wirtschaftsprofessors viel stärker an Deutschlands Bahnverkehr orientieren. Dort sei nicht nur der Regionalverkehr sehr gut ausgebaut, sondern verschiedene Anbieter auch miteinander vernetzt. "Es gibt eine Taktung, Busse und Bahnen sind aufeinander abgestimmt, so etwas kennt man in Japan gar nicht", beklagt der Professor der Universität Kansei, der auch in Manchester und Wien geforscht hat und ein bekennender Deutschlandfan ist.
Auch sogenannte Share-Mobility-Konzepte, in denen also auch das Auto und das Rad mitberücksichtigt werden, stecken in Japan noch in Babyschuhen. Wolle die japanische Bahn weiter konkurrenzfähig bleiben, müsse sie attraktiver werden, so Utsunomiya, der Deutschland ausdrücklich für das 49-Euro-Ticket lobt und dies als "revolutionär" bezeichnet. Bahnfahren in Japan ist nämlich auch teuer: Wer mit dem Schnellzug fährt, ist bei einer zweistündigen Hin- und Rückfahrt etwa 300 Euro los. Frühbucherrabatte existieren nicht.