Streit zwischen Athen und Brüssel Welche Folgen hat die Dauerkrise?
Griechische Regierung und Geldgeber ringen immer wieder um den Kurs in der Schuldenkrise. Warum kann der Streit nicht beigelegt werden? Und welche Auswirkungen hat die Sparpolitik für die Bevölkerung? tagesschau.de beantwortet die wichtigsten Fragen.
Welche Reformen hat Griechenland seit Ausbruch der Krise bereits durchgeführt?
Seit dem Ausbruch der Staatsschuldenkrise vor fast sieben Jahren verabschiedete das Parlament in Athen zahlreiche Reformen - egal welche Partei den Regierungschef stellte. In vielen Fällen bedeuteten die Änderungen Einschnitte und Kürzungen bei den Ausgaben oder Steuererhöhungen. Die Folgen bekam die Bevölkerung finanziell unmittelbar zu spüren.
Mehrmals senkte die Regierung etwa die Renten, durchschnittlich um 45 Prozent. Im Gegenzug stieg das gesetzliche Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre. Im öffentlichen Sektor sank die Beschäftigung um rund 20 Prozent. Die, die bleiben durften, mussten deutliche Kürzungen bei ihren Gehältern hinnehmen. Sonderleistungen wie Urlaubs- oder Weihnachtsgeld wurden gestrichen. Auch der Mindestlohn sank. Gleichzeitig stiegen die Steuern. So wurde etwa die Mehrwertsteuer mehrmals angehoben, eine neue Immobiliensteuer eingeführt und auch die Unternehmenssteuer erhöht.
Welche Auswirkungen hat die Reformpolitik auf die griechische Bevölkerung?
Die Folgen des Sparkurses waren und sind für die griechische Bevölkerung dramatisch. Wie die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung im vergangenen Jahr berechnete, ging das durchschnittliche Haushaltseinkommen vor Steuern von 23.100 Euro im Jahr 2008 auf etwa 17.900 Euro im Jahr 2012 zurück - ein Verlust von rund 23 Prozent. Danach folgten noch weitere Kürzungsrunden. Besonders hart traf es laut Böckler-Stiftung die ärmsten Griechen. Während das Haushaltseinkommen der oberen zehn Prozent um 17 Prozent sank, ging es für das ärmste Zehntel der Bevölkerung sogar um 86 Prozent zurück.
Der Anteil der Bevölkerung, die mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze auskommen müssen, stieg binnen fünf Jahren von 27,6 auf 36,0 Prozent - und das, obwohl im selben Zeitraum aufgrund der allgemein sinkenden Einkommen die Armutsgrenze etwa für eine vierköpfige Familie um ein Drittel sank.
Die Gründe für die Entwicklung sind leicht auszumachen. So sanken die Löhne im Privatsektor zwischen 2009 und 2013 um 19 Prozent, im öffentlichen Sektor sogar um ein Viertel. Auch wirken sich die starken Kürzungen bei der Rente aus. All das geht natürlich nicht an der Stimmung in der Bevölkerung vorbei. Laut einer OECD-Studie sind heute nur etwas mehr als 40 Prozent der Griechen mit ihrem Leben zufrieden. Im EU-Durchschnitt sind es doppelt so viele. Die Selbstmordrate in Griechenland nahm im Krisenmonat Juni 2011 um 36 Prozent zu - und ist seitdem nicht mehr gesunken. Insgesamt kann ein Drittel der nicht altersbedingten Todesfälle den Entbehrungen der Krise zugeschrieben werden, so eine Studie der Universität Cambridge.
Wie steht es um die Gesundheitsversorgung im Land?
Vor vier Jahren beorderte die griechische Sektion der Hilfsorganisation "Ärzte der Welt" ihre Mediziner aus zahlreichen Dritte-Welt-Ländern zurück in die Heimat. Denn die medizinische Versorgung in Griechenland ist mittlerweile in einem dramatischen Zustand. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung hat keine Krankenversicherung mehr, die Zuzahlung von 25 Prozent zu Medikamenten können sich viele nicht mehr leisten. Die öffentlichen Gesundheitsausgaben pro Einwohner sanken binnen fünf Jahren um ein Drittel.
Eine Konsequenz: Die Geburtenrate sank 2012 auf den niedrigsten Stand seit 1955, die Kindersterblichkeitsrate stieg einer Studie der Universität Cambridge zufolge um 43 Prozent an.
Besonders dramatisch sind die Auswirkungen für verwundbare Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise Drogenabhängige. Durch die Sparprogramme stehen keine Mittel für saubere Spritzen oder Kondome mehr zur Verfügung, die in der Szene verteilt werden konnten. Entsprechend nahm die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Griechenland unter Süchtigen stark zu. 2009 waren es noch 15 Fälle, 2013 fast 1000. Auch Infektionen mit Tuberkolose verdoppelten sich bis 2013 unter Drogenabhängigen.
Hat die Reformpolitik die griechische Wirtschaft wieder auf die Beine gebracht?
Die wirtschaftlichen Rahmendaten Griechenlands zeigen, wie tief das Land noch in der Krise steckt. Zwar wuchs die Wirtschaft nach Jahren der Rezession im vergangenen Jahr wieder und soll dies laut einer Prognose des Bundesfinanzministeriums auch in den kommenden Jahren weiter tun. Der Absturz, den das Land zu verkraften hatte, war jedoch brutal. 2015 lag das Bruttoinlandsprodukt 27 Prozent unter dem Niveau von 2008. Stark angestiegen ist hingegen die Arbeitslosigkeit. Sie liegt heute noch bei etwa 25 Prozent und wird laut Bundesfinanzministerium auch in den kommenden Jahren nur wenig sinken. Unter den jungen Menschen bis 25 Jahren ist sogar jeder Zweite arbeitslos.
Ebenfalls explodiert ist die Staatsverschuldung des Landes. Im vergangenen Jahr lag sie bei 177 Prozent des BIP. Trotz aller Reformanstrengungen gehen Experten von einem weiteren Anstieg aus. Die EU-Kommission erwartet, dass sie noch in diesem Jahr auf 185 Prozent steigen wird, die OECD geht sogar von 190 Prozent aus. Erst danach könnte sie sinken.
Laut OECD hat sich jedoch die Wettbewerbsfähigkeit des Landes mittlerweile verbessert. Die Lohn-Stück-Kosten sanken um rund 15 Prozent. So richtig profitiert das Land davon jedoch noch nicht. Außer in der Schifffahrtsindustrie und beim Tourismus gibt es derzeit kaum eine Branche, die wirklich gut dasteht.
Warum tun sich die Griechen mit den Reformauflagen immer so schwer?
Die harte Sparpolitik treibt seit Jahren zahlreiche Demonstranten auf die Straßen. Mehrfach wurde das Land von Generalstreiks lahmgelegt. Der breite Widerstand erschwert es den Regierungen, Reformen durchzusetzen. Das gilt nicht nur für den amtierenden Ministerpräsidenten Alexis Tsipras, dessen linke Partei Syriza gewählt wurde, um den Sparkurs zu beenden. Auch alle seine Vorgänger seit 2010 hatten mit solchen Massenprotesten zu kämpfen.
Es ist jedoch nicht nur der Druck der Straße, der die Umsetzung vereinbarter Reformen schwierig macht. Die griechische Politik pflegt traditionell gute Kontakte zu Interessenvertretungen, die auf den Erhalt traditioneller Privilegien pochen. Der Übergang zum Filz ist dabei fließend. Im jüngsten Korruptionsranking von Transparency International belegt Griechenland Platz 58 - hinter etwa Malaysia und Kuba.
Allerdings ist hier eine Verbesserung spürbar. Ein Jahr zuvor lag Griechenland noch auf Platz 69. Tatsächlich ist in einige Branchen im Zuge der Reformpolitik Bewegung gekommen, etwa bei den Apotheken. Doch so richtig scheint auf die von der linken Syriza geführte Regierung nicht gegen die Interessenvertreter vorgehen zu wollen - auch wenn die Geldgeber von EU, EZB und IWF in der Vergangenheit immer wieder darauf gepocht haben. "Es mangelt an Willen, aber auch an Können", so Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zur mangelnden Umsetzung mancher Reformen.