Interview

DIW-Experte zu Euro-Krise "Griechenland ist Verlierer in diesem Spiel"

Stand: 15.06.2015 17:15 Uhr

Die Schlinge um Griechenland zieht sich weiter zu. Schuld daran sei vor allem die griechische Regierung, meint DIW-Experte Kritikos. Ihre Politik sei verantwortungslos. Im tagesschau.de-Interview erklärt er, wer in dem gefährlichen Spiel welche Strategie verfolgt.

tagesschau.de: Die Verhandlungen zwischen Griechenland und den internationalen Geldgebern scheinen festgefahren. Ist das ein Spiel mit dem Feuer?

Alexander Kritikos: Aus Sicht der Eurogruppe spielt vor allem die griechische Regierung mit dem Feuer. Vor allem in den zurückliegenden zwei Monaten ist deutlich geworden, dass die griechische Regierung sich darum drücken möchte, irgendeine Art von Reformpaket durchs griechische Parlament zu bringen. Die Angst, keine Mehrheit zu bekommen, ist groß. Denn das würde ein vorzeitiges Ende der eigenen Regierungszeit bedeuten. Die Tsipras-Regierung versucht also derzeit alles zu tun, um an die letzten Milliarden des Rettungspakets zu kommen, ohne eine eigene Gegenleistung zu erbringen.

Zur Person

Alexander Kritikos hat griechische Wurzeln und ist seit 2011 Forschungsdirektor am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Zudem hat er eine Professur für Industrie- und Institutionenökonomie an der Universität Potsdam.

tagesschau.de: Der griechischen Regierung geht es also in erster Linie um den eigenen Machterhalt und nicht so sehr um die Zukunft ihres Landes?

Kritikos: Das muss man wohl so sehen. Man hat den Eindruck, egal, welche Vorschläge IWF und Eurogruppe machen, die griechische Regierung rückt davon mindestens zwei Schritte ab. Sie versucht, die Differenzen bis zur letzten Sekunde zu erhalten, damit dann das Land am Ende doch von der Eurogruppe gerettet wird.

"Griechische Regierung handelt verantwortungslos"

tagesschau.de: Die griechische Regierung scheint die erneute Eskalation also geradezu provoziert zu haben. Sitzt sie denn am längeren Hebel?

Kritikos: Beide Seiten sitzen am kurzen Hebel. Der Unterschied ist nur: Die griechische Regierung handelt verantwortungslos und hofft auf die Vernunft der anderen Seite, die - so das Kalkül - schon alles tun werde, um Griechenland im Euro zu halten. Die Wahrheit ist aber: Selbst wenn Griechenland im Euro bleibt und einige Milliarden aus dem zweiten Rettungspaket bekommt, ist das Land bereits jetzt Verlierer in diesem Spiel. Es ist in die Rezession zurückgefallen, die Staatshaushalte sind leer geräumt, es gibt mehr oder weniger kein Geld mehr - die Angestellten im öffentlichen Dienst bekommen jetzt schon nicht mehr ihren vollen Lohn. Insofern sägt die griechische Regierung ihren eigenen Ast ab, auf dem sie derzeit sitzt, einen Grexit würde sie nicht überleben.

tagesschau.de: Aber auch die Eurogruppe hat doch viel zu verlieren?

Kritikos: Natürlich. Die europäische Seite kann bei einem Grexit die griechischen Kredite nahezu abschreiben. Vielleicht kommen 20 Prozent des geliehenen Geldes irgendwann zurück, mehr nicht. Das größte Risiko ist aber, dass niemand weiß, was im Falle einer griechischen Staatspleite mit dem Euro und der Gesamtwirtschaftslage in der Eurozone passiert. Ob wir wieder eine so negative Entwicklung haben werden wie nach der letzten Finanzkrise 2008/2009.

Aber mit Abstand am meisten verliert die griechische Bevölkerung, wenn es tatsächlich zu einem Grexit kommt. Griechenland würde in eine noch tiefere Depression rutschen, es würde eine noch höhere Arbeitslosigkeit geben, aber auch die Löhne derjenigen, die Arbeit haben, wären sehr viel weniger wert. Schlimmstenfalls droht eine humanitäre Katastrophe. Und es ist nicht auszuschließen, dass es auf den Straßen Athens und anderswo zu einem Aufruhr kommt.

"Ein konstruktives Verhandlungspaket wäre möglich"

tagesschau.de: Die griechische Regierung will auf keinen Fall Rentenkürzungen oder eine Erhöhung der Mehrwertsteuer - wie von den internationalen Geldgebern vorgeschlagen - in Kauf nehmen. Sind die Forderungen schlicht zu hart?

Kritikos: Zu hart ist in dieser Situation wahrscheinlich alles aus Sicht der griechischen Regierung. Aber am Beispiel Rente kann man illustrieren, wie man in diesen Verhandlungen zu konstruktiven Ergebnissen hätte kommen können: Von europäischer Seite wurde versäumt zu überlegen, welche Reformen für die griechische Regierung am ehesten annehmbar sind. Statt zu verlangen, die Rentenniveaus weiter zu senken, hätte man darauf pochen können, das Renteneintrittsalter zu erhöhen.

Ein Problem unter vielen ist nämlich, es gibt in Griechenland nicht einmal ein Sozialhilfesystem. Alle, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, bekommen gar nichts. Deshalb sind derzeit die relativ hohen Renten so etwas wie ein Ersatzsozialhilfesystem in vielen Familien.

Eine verantwortungsvolle Politik auf griechischer Seite hätte sein können, zu sagen: Wir akzeptieren das Absenken der Renten, aber wir müssen dafür ein Sozialhilfesystem einrichten. Die Einsparungen bei der Rente wären also teilweise in die Sozialhilfe geflossen. So hätte man gemeinsam ein konstruktives Paket schnüren können.

Merkel und Gabriel: good cop - bad cop

tagesschau.de: Die deutsche Politik spricht nicht mit einer Stimme: Die Kanzlerin beispielweise will den Grexit unbedingt vermeiden, von Gabriel und anderen kommt Kritik. Welche Strategie steckt dahinter?

Kritikos: Ich sehe hier eine Rollenaufteilung à la good cop, bad cop. Einerseits versucht man, den Druck auf Griechenland aufrecht zu erhalten, um nicht den Eindruck zu vermitteln: Egal, was kommt, wir retten euch schon. Das Ziel der Eurogruppe ist natürlich, dass sich Griechenland doch noch bewegt und irgendeine Reform verabschiedet. Andererseits gibt es so etwas wie eine europäische Verantwortung: Diese Position vertritt Merkel. Und das ist auch notwendig, wenn schon die nationalen Politiker in Griechenland diese Verantwortung für ihr eigenes Volk nicht aufbringen. 

tagesschau.de: Einem Zeitungsbericht zufolge soll es Spannungen zwischen IWF und EU-Kommission geben. Der IWF soll eine Einigung mit Griechenland wegen zu großer Zugeständnisse verhindert haben. Wie beurteilen Sie die Rolle des IWF in den Verhandlungen?

Kritikos: Die Rolle des IWF ist zentral: Der Währungsfonds hat andere Zielvorstellungen als die EU, denn er hat noch andere Länder außerhalb Europas auf der Agenda. Deswegen verfolgt der IWF das Ziel, seine Regelungen zu 100 Prozent durchzuziehen. Die Europäer hingegen haben mehr zu verlieren und würden einem weichen Kompromiss daher eher zustimmen. Es gibt viele Stimmen, die sagen, die Eurogruppe allein in Kombination mit der EZB wäre ein zu nachgiebiger Verhandlungspartner für Griechenland. Vor allem der IWF sorgt dafür, dass Standards eingehalten werden.

"Gefährliche Zweiteilung der griechischen Regierung"

tagesschau.de: Der griechische Finanzminister Varoufakis hat einen Schuldenschnitt gefordert. Wie viel Einfluss hat er noch und wer gibt in der griechischen Regierung eigentlich derzeit die Linie vor?

Kritikos: Jetzt könnte ich provokativ zurückfragen: Welche Linie? Wir haben derzeit eine Art gefährliche Zweiteilung der Regierung Tsipras: Sein Gegenspieler ist die kommunistische Fraktion um den Energieminister Panagiotis Lafazanis. Er versammelt rund zwei Fünftel der Abgeordneten hinter sich, die jede Art von Reformpaket prinzipiell ablehnen und stattdessen lieber den Euro verlassen wollen. Die Gesamtbevölkerung ist aber nach wie vor zu 70 oder 80 Prozent für den Beibehalt des Euros. Hier macht Tsipras keine starke Figur, weil er es nicht schafft, für eine Vereinbarung mit der Eurogruppe die volle Unterstützung seiner eigenen Fraktion hinter sich zu haben.

tagesschau.de: Wie ist ihre Prognose: Wird es bis zum 30. Juni - wenn das Hilfsprogramm ausläuft - eine Einigung geben?

Kritikos: Ich glaube, dass es irgendeine Art von Einigung geben wird. Es gibt vor allem zwei Möglichkeiten: Entweder man bezahlt die Rettungsmilliarden zum Teil aus, um Griechenland in die Lage zu versetzen, die IWF-Schulden damit abzulösen. Oder aber, man einigt sich darauf, dass die offenen Kredite umgeschuldet werden und die Milliarden aus dem Rettungspaket weiterhin offen bleiben, um sie noch als Verhandlungsmasse für weitere Reformmaßnahmen zu haben.

Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de