Unerwartet hohe Teuerung Wall Street verdaut Inflationsschock
Vollendete Tatsachen sind besser als Unsicherheit. Nach diesem Motto hat die Wall Street die erschreckend hohen Inflationsdaten zu Wochenmitte relativ gut verdaut. Der deutsche Markt reagierte nervöser.
Wie außergewöhnlich diese Zeiten sind, illustrieren zwei Zahlen, die heute über die Nachrichtenticker liefen: Erstmals seit mehr als 40 Jahren lag die Inflationsrate in den USA wieder über neun Prozent. Und erstmals seit 20 Jahren war ein Euro wieder weniger als einen Dollar wert.
Mit 9,1 Prozent stiegen die Preise in den USA im Juni noch stärker als befürchtet. Das ist die höchste Teuerungsrate seit November 1981. Von Reuters befragte Experten hatten für die mit Spannung erwartete Inflationsrate mit 8,8 Prozent gerechnet. Entsprechend schwach starteten die US-Börsen in den Tag. Der Dow Jones konnte seine Verluste im Tagesverlauf aber verringern und schloss nur noch 0,7 Prozent tiefer.
Der Technologieindex Nasdaq 100 ging sogar nur 0,1 Prozent niedriger aus dem Handel, nachdem er zunächst deutlich stärker als die Standardtitel verloren hatte. "Jetzt ist es raus", mag sich mancher Marktteilnehmer angesichts der vollendeten Tatsache gedacht haben.
Nun erwarten die meisten Beobachter, dass die US-Notenbank den Leitzins auf ihrer Sitzung am 26. und 27. Juli um einen weiteren großen Schritt erhöht. Der US-Notenbanker Raphael Bostic schließt nach den jüngsten Daten sogar eine Zinserhöhung um einen vollen Prozentpunkt nicht aus. "Alles steht zur Debatte", sagte der Chef des Fed-Ablegers von Atlanta. An der Terminbörse CME ging am Abend auch eine deutliche Mehrheit der Marktteilnehmer von einem solchen historischen Schritt aus. Noch vor einer Woche hatte kaum ein Marktteilnehmer dieses Szenario auf dem Schirm.
"Die Märkte sind in Sorge, dass die Notenbanken zu stark an der Zinsschraube drehen und damit die Industrieländer in die Rezession führen", fasste Norbert Frey, Fondsexperte der Fürst Fugger Privatbank die Lage zusammen. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir eine Rezession haben werden, weil die Fed aggressiv handeln muss", sagte Chris Zaccarelli, Investmentexperte bei Independent Advisor Alliance. Die Ökonomen der Bank of America prognostizieren einen Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den USA um 1,4 Prozent im vierten Quartal.
Auch die US-Notenbank selbst spricht von einem mäßigeren Wachstum. "Mehrere Distrikte berichteten über zunehmende Zeichen für eine Verlangsamung der Nachfrage", teilte die Fed in ihrem am Abend veröffentlichten Konjunkturbericht "Beige Book" mit. In fünf der zwölf Bezirke seien Sorgen über ein erhöhtes Rezessionsrisiko laut geworden. Die Konsumausgaben hätten sich unter dem Strich abgeschwächt, weil die Einkommen der privaten Haushalte unter den hohen Lebensmittel- und Benzinpreisen litten.
Neue Impulse könnte in dieser Lage am ehesten die nun anlaufende Berichtssaison zum zweiten Quartal bringen. Morgen werden der US-Branchenprimus JPMorgan und die Investmentbank Morgan Stanley den Zahlenreigen der Großbanken eröffnen. Die Märkte erwarten bereits deutliche Gewinnrückgänge wegen der steigenden Kreditvorsorge.
Nach Veröffentlichung der US-Daten um 14.30 Uhr ging auch der deutsche Aktienmarkt auf Tauchstation. Hatte der DAX zuvor nur leicht im Minus gelegen, rauschte er danach um bis zu 2,1 Prozent auf 12.633 Punkte nach unten. Zum Handelsende konnte der deutsche Leitindex sein Minus auf 1,2 Prozent eindämmen.
In Deutschland verharrt die Teuerung ebenfalls auf hohem Niveau. Die Verbraucherpreise legten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gegenüber dem Vorjahresmonat um 7,6 Prozent zu. Die Wiesbadener Behörde bestätigte damit am Morgen ihre erste Schätzung. Im Mai hatte die Inflationsrate noch bei 7,9 Prozent gelegen. Gedämpft wurde der Anstieg der Verbraucherpreise im Juni von dem zu Monatsbeginn eingeführten Tankrabatt und dem 9-Euro-Ticket.
Der Euro hat heute erstmals seit 20 Jahren weniger als einen Dollar gekostet. Nach den US-Inflationsdaten fiel die europäische Gemeinschaftswährung für einen kurzen Moment unter die Parität. Daraufhin erholte sich der Euro wieder etwas. Die Aussicht auf eine Rezession infolge eines Gasmangels hatte den Euro bereits in den vergangenen Wochen massiv belastet.
Auch der Goldpreis reagierte heftig auf die US-Daten. Die Aussicht auf noch stärker steigende Zinsen ließ die Notierung zunächst fast bis auf 1700 Dollar pro Feinunze abstürzen. Höhere Zinsen machen das Edelmetall als Anlageform, die keine Zinsen abwirft, tendenziell unattraktiver. Darauf konnte sich der Goldpreis aber deutlich erholen und notierte am Abend wieder bei 1735 Dollar.
Im DAX litt die Aktie von Bayer unter einem erneuten Dämpfer bei den Glyphosat-Klagen. Ein US-Berufungsgericht rollt eine Klage wegen angeblicher Krebsrisiken des Unkrautvernichters wieder auf.
Die Fluggastzahlen am Frankfurter Flughafen haben im Juni einen neuen Höchstwert seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie erreicht. Mit rund fünf Millionen Fluggästen hat sich das Aufkommen am größten deutschen Flughafen fast verdreifacht. Das liegt allerdings rund 24 Prozent unter dem Vorkrisenniveau vom Juni 2019. Auch das für Fraport wichtige Auslandsgeschäft erholt sich weiter.
Die Lufthansa-Aktie fiel etwas stärker als der MDAX. Wegen der aktuellen Abfertigungsprobleme streicht die Gesellschaft rund 2000 weitere Flüge. Betroffen seien Verbindungen von Frankfurt und München bis Ende August, sagte ein Unternehmenssprecher. Man habe in der vergangenen Woche gesehen, dass man mit gezielten Streichungen den verbleibenden Flugplan stabilisieren könne. Dies habe man nun für die nächsten Wochen analysiert und umgesetzt. Es handelt sich bereits um dritte Welle von Flugabsagen der Lufthansa in diesem Sommer.
Nach starken Zuwächsen im zweiten Quartal sieht sich Hugo Boss auf Rekordkurs. Der im MDAX notierte Modekonzern hob am Abend seinen Ausblick für das laufende Geschäftsjahr an. Er prognostiziert nun einen Konzernumsatz zwischen 3,3 und 3,5 Milliarden Euro. Für das operative Ergebnis (Ebit) wird ein Anstieg auf 285 bis 310 Millionen Euro erwartet. Im zweiten Quartal legte der währungsbereinigte Konzernumsatz angetrieben durch eine starke Nachfrage auf vorläufiger Basis um 34 Prozent auf 878 Millionen Euro zu. Das Ebit betrug 100 Millionen Euro und lag damit deutlich über dem Vorjahresniveau von 42 Millionen Euro.
Der US-Flugzeugbauer Boeing hat im Juni so viele Maschinen ausgeliefert wie seit März 2019 nicht mehr. Im vergangenen Monat wurden insgesamt 51 Flugzeuge an Kunden übergeben, wie das Unternehmen gestern mitteilte. Darunter seien auch 43 Maschinen des Modells Boeing 737 MAX gewesen, das nach zwei Abstürzen mit insgesamt 346 Toten fast zwei Jahre lang aus dem Verkehr gezogen worden war.
Die Gerresheimer-Aktie führte die Gewinnerliste im MDAX an. Der Verpackungsspezialist steigerte den Umsatz im zweiten Geschäftsquartal (bis Ende Mai) im Jahresvergleich um knapp 18 Prozent auf 444,6 Millionen Euro. Dabei profitierten die Düsseldorfer von einer guten Nachfrage nach Spezialglas etwa für Medikamentenampullen, nach Kunststoffverpackungen sowie Inhalatoren. Die Aktie profitiert heute aber auch von Unternehmensaussagen, wonach höhere Kosten infolge einer Gaspreisumlage über höhere Preise an Kunden weitergegeben werden sollen.
Der Online-Gebrauchtwagenhändler Auto1 aus dem SDAX hat im zweiten Quartal zwar mit 166.100 Fahrzeugen 16,4 Prozent mehr als ein Jahr zuvor verkauft. Die Aktie drehte dennoch ins Minus. Für das zweite Quartal rechnet der Vorstand im Privatkundenbereich (Retail) mit einem Rohergebnis - also Verkaufserlös minus Ankaufpreis - je Fahrzeug von mehr als 980 Euro. Das wäre deutlich mehr als noch im Vorquartal.
Twitter fordert von Tech-Milliardär Elon Musk vor Gericht, die vereinbarte Übernahme des Online-Dienstes umzusetzen. Dafür reichte der Online-Dienst wie angekündigt eine Klage im Bundesstaat Delaware ein, wie Verwaltungsratschef Bret Taylor gestern mitteilte. Das zuständige Gericht kann den Vollzug einer Übernahme anordnen. Das fordert Twitter auch ausdrücklich in der gut 60-seitigen Klageschrift. Musk hatte am Freitag mitgeteilt, dass er von der Vereinbarung zum Kauf von Twitter für rund 44 Milliarden Dollar zurücktrete.