Inflation und Altersarmut "Meine Rente wird nicht reichen"
Die Preise in Deutschland steigen so schnell wie seit rund 30 Jahren nicht mehr. Im Monat August lag die Teuerungsrate bei 3,9 Prozent. Immer mehr Menschen fürchten nun um ihre Altersvorsorge.
Im zweiten Stock der Volkshochschule in Mainz schließt Roland Lehmann müde, aber zufrieden die Tür eines Schulungsraumes zu. Der Betriebswirt hat gerade einen vierstündigen Kurs zum "Thema Altersarmut - nein danke! Eine Strategie für unter 30-Jährige" gegeben. "Die Schulung war wieder sehr gut besucht. Das Interesse ist enorm gewachsen", fasst Lehmann die zurückliegenden Jahre zusammen.
Wegen der anhaltenden Niedrigzinsen machten sich immer mehr Menschen Sorgen um ihre Altersvorsorge. "Früher hieß es: Ich gehe arbeiten. Ich kriege Rente. Jetzt sagen mir die Kursteilnehmer: Ich gehe arbeiten, aber meine Rente wird nicht reichen." Das gelte teils auch bei denjenigen, die sogar eine gesetzliche, betriebliche und private Vorsorge hätten.
Scheu vor Aktien weiter groß
Lehmann gibt seit mehr als vier Jahren Kurse rund um das Thema Geld. Seine Angebote hat er immer weiter ausgebaut. Über Indexfonds (ETF), langfristige Sparpläne oder eine gute Depotführung kann man sich bei ihm informieren. Nach dem Start in Mainz sind schnell weitere Volkshochschulen bis nach
Aachen hinzugekommen. "Die Themen treiben die Leute um. Nicht nur Jüngere denken über ihre Altersvorsorge nach. Durch die anziehende Inflation sorgen sich jetzt auch Rentner um ihren Lebensstandard."
Die Geldentwertung sei der Verlust von Kaufkraft, erklärt der Betriebswirt. In seinen Kursen führe er immer die Durchschnittsinflation der vergangenen zehn Jahre an. "Das waren 1,3 Prozent. Von 10.000 Euro bleiben dann noch 8800 Euro übrig. Aber jetzt zieht die Inflation deutlich an und damit auch die Vermögensvernichtung." Im August erreichte die Teuerungsrate mit 3,9 Prozent den höchsten Wert seit Dezember 1993, wie das Statistische Bundesamt am Morgen bekannt gab.
Eine Möglichkeit, die Folgen dieser Inflation auszugleichen, könnten Wertpapiere sein - etwa Aktien, sagt Lehmann. Aber die Scheu davor sei gerade bei älteren Menschen groß. "Was soll ein 70-Jähriger auch mit Aktien. Um mögliche Verlustphasen aussitzen zu können, braucht es einen Zeitraum von zehn bis 15 Jahren. Das sind keine verlockenden Aussichten für Rentner."
Mehrheit befürchtet anhaltend hohe Inflation
In Berlin beugt sich Klaus Morgenstern über Zahlenkolonnen. Er ist der Sprecher des Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA). Erst vor wenigen Tagen haben die Meinungsforscher von INSA eine Befragung zum Thema Inflation durchgeführt. Danach geht ein Drittel der Befragten davon aus, dass eine Inflation von drei bis vier Prozent dauerhaft anhält. Fast ebenso viele rechnen sogar damit, dass die Inflation noch weiter steigt - sogar auf über fünf Prozent. "Mit diesen hohen Werten hatte ich nicht gerechnet", erklärt Morgenstern. "Die Werte liegen gerade bei den Jüngeren hoch, und die haben ja in den zurückliegenden Jahrzehnten kaum Geldentwertung erlebt."
Einher mit den Inflationsbefürchtungen geht laut Morgenstern auch die Sorge vor Altersarmut. "Die Befürchtung, später mal nicht genug zu haben, wächst jedes Jahr. Das zeigen unsere langfristigen Befragungen. Das Zutrauen in das gesetzliche Rentensystem sinkt. Gerade die Jüngeren sind pessimistisch. Immer mehr interessieren sich für die private Vorsorge. Hier ist das Vertrauen aber Schwankungen unterworfen - wie etwa rund um die Weltfinanzkrise."
Renten schützen vor Inflation - vorerst
In Freiburg sitzt Bernd Raffelhüschen an seinem Schreibtisch an der Albert-Ludwigs-Universität. Der Professor für Finanzwissenschaft leitet das "Forschungszentrum Generationenverträge". Beim Thema Inflation und Rentner winkt Raffelhüschen gleich ab. "Für die Rentner ist die aktuelle Geldentwertung kein Problem. Die Renten sind an die Löhne gekoppelt. Die Gewerkschaften dürften bei den nächsten Tarifverhandlungen höhere Abschlüsse durchsetzen. Diese Erhöhungen kommen dann zeitversetzt bei den Rentnern an." Das Rentensystem sei bei den aktuellen Zahlen eine Art Inflationsschutz.
Also alles in Ordnung? Immerhin betonen die Europäische Zentralbank oder die Bundesregierung, dass die Inflation bald wieder deutlich zurückgehen werde. Der Einmaleffekt der Mehrwertsteuersenkung falle weg. Nach der Corona-Krise habe es auch einen starken, einmaligen Nachfrageschub gegeben.
System vor großer Belastungsprobe
Hier schüttelt Raffelhüschen dagegen den Kopf. "Das, was gesagt wird, ist ganz sicher falsch. Die Europäische Zentralbank hat für viele Milliarden Staatspapiere von EU-Krisenländern gekauft - mit neu gedrucktem Geld. Das ist jetzt am Markt und geht nach den Immobilien jetzt in die Konsumgüter. Vielleicht geht die Inflation bald etwas zurück. Aber es wird ein mittelfristiges Problem bleiben." Darauf sollten sich Jüngere mit privater Vorsorge einstellen - mit einer breit gestreuten Anlage.
Das Rentensystem und die Bezieher seien aber vor allem wegen des demographischen Wandels bedroht. "Das geht schon seit vielen Jahren so. Ab 2025 gehen aber Millionen in die Rente. Das wird die große Belastungsprobe, weil es dann im Verhältnis viel zu wenig Beitragszahler gibt", prognostiziert der Finanzwissenschaftler. Hier habe die Politik parteienübergreifend über Jahre versagt. Rentenreformen der Regierung Schröder seien zurückgedreht worden. So sei das System nicht zukunftsfest. "Das weiß die Politik und versucht das Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten."
"Die Politik hat keine Lösungen"
Auch vor der Volkshochschule in Mainz stehen die Wahlplakate für die Bundestagswahl. Auf den Postern ist die Altersfinanzierung kaum ein Thema. Immerhin verspricht SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz "stabile Renten". Betriebswirt Lehmann schüttelt mit dem Kopf. "Das umlagefinanzierte System trägt auf Dauer nicht. Immer mehr Leute erkennen, dass da etwas gewaltig schiefläuft." Auch in seinen Kursen werde der Wahlkampf diskutiert. "Vielen kommt die Rente im Wahlkampf viel zu kurz. Alle Parteien reden etwa über das Klima, aber niemand über die langfristige Finanzlage der Rentenkasse. Ist ja auch klar, denn die Politik hat keine Lösungen."