Putin trifft sich mit Soldatenm, die im Krieg gegen die Ukraine eingesetzt wurden.
interview

Krieg gegen die Ukraine "Putin wittert einen Moment der Schwäche"

Stand: 04.01.2024 19:39 Uhr

Die intensivierten Angriffe Russlands auf die Ukraine zeigen nach Ansicht des Militärexperten Gressel, dass Putin die eigenen Truppen im Aufwind sieht. Allerdings müsse das nicht so bleiben. Wovon hängt eine Wende ab?

tagesschau.de: Das neue Jahr beginnt mit einer massiven russischen Angriffswelle aus der Luft auf Städte in der gesamten Ukraine. Wie lange und wie gut kann sich die Ukraine gegen diese Luftschläge wehren?

Gustav Gressel: Das hängt davon ab, wie viele Flugkörper sie aus dem Westen noch bekommt. Das hängt im Westen davon ab, wie schnell wir die Produktion dieser Flugkörper steigern. Die Bestände mit vorhandenen Flugkörpern sind bei manchen Waffensystemen bald erschöpft oder sehr knapp. Und bei einigen Waffensystemen, zum Beispiel bei IRIS-T, die ja sehr neu sind, hängt im Grunde der Munitionsnachschub allein an der Neuproduktion; gerade in Deutschland.

Gustav Gressel, Denkfabrik European Council on Foreign Relations, mit Einschätzungen zum Krieg gegen die Ukraine

tagesschau24, 03.01.2024 18:00 Uhr

"'Kinschal'-Rakete ist ein Problem"

tagesschau.de: Es heißt, die russischen Hyperschallraketen des Typs "Kinschal" forderten die Ukraine besonders heftig heraus. Was kann die Ukraine so schwer abfangbaren Waffensystemen entgegensetzen? Und können Überschallwaffen noch zu einem ernsthafteren Problem für die Ukraine werden?

Gressel: Ja, die "Kinschal" ist ein Problem, weil es bei so extrem schnellen Waffensystemen wenige Abfangraketen gibt, die eine vernünftige Chance haben, so einen Flugkörper abzufangen, und weil pro Abfangprozess oft mehrere Abfangraketen notwendig sind. Das hängt mit dem Schießfenster zusammen, also mit der Zeit, die ein Raketenwerfer hat, auf so einen Schuss zu reagieren. Und das erhöht natürlich den Munitionsverbrauch.

Ansonsten: Die "Kinschal", die ja von Russland als Wunderwaffe angepriesen wurde, entpuppt sich im Grunde auch nur als eine ballistische Rakete, die an ein Flugzeug gehängt wird, damit sie ihre Reichweite und ihre Endgeschwindigkeit leicht verbessert. Ansonsten halten sich die Wunderwaffenpotenziale doch eher in Grenzen.

Gustav Gressel
Zur Person
Gustav Gressel ist Politikwissenschaftler und Militäranalytiker beim European Council On Foreign Affairs in Berlin.

"Russland hat sich Raketen aufgespart"

tagesschau.de: Und warum diese Luftangriffe ausgerechnet jetzt, also über die Feiertage? Was könnte Russland damit bezwecken?

Gressel: Russland produziert etwa 100 komplexere Fernwaffen pro Monat, also "Kinschal", "Kaliber", "Iskander" und so weiter. Wir haben im November und im Oktober relativ wenige Angriffe mit komplexeren Waffensystemen gesehen. Das meiste waren iranische Drohnen.

Auch der Dezember war relativ ruhig, und da hat man sich ausgerechnet - und damit liegt Russland leider richtig -, dass bei massiven Angriffswellen die Chance eines einzelnen Flugkörpers, durchzukommen, weit höher ist als bei einzelnen oder bei kleineren Angriffen. Und dementsprechend hat man sich Raketen aufgespart, um eben dann Ende Dezember große Angriffswellen zu starten.

"Putin sieht sich klar im Aufwind"

tagesschau.de: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat davon gesprochen, dass Putin ein Tier sei, das Schwäche wittern würde. Kann das auch ein Grund sein - vielleicht auch hinsichtlich der Unterstützung der westlichen Verbündeten der Ukraine?

Gressel:  Leider ist das auch richtig. Die Debatten um die Ukraine-Unterstützung, vor allen Dingen in den USA, die ja für Putin wirklich die zentrale Referenz sind, die sind nicht gerade erbauend. Und dementsprechend fühlt sich Putin jetzt natürlich in einer Position der Überlegenheit und der Stärke und kostet die auch in der Rhetorik dementsprechend aus.

Wenn man sich seine Neujahrsansprache anschaut und seine letzten öffentlichen Auftritte, dann bestärkt er nur die Kriegsziele Russlands, wie sie am Beginn des Krieges formuliert wurden, und gibt sich kompromissloser als in vielen Monaten während dieses Krieges. Das heißt, er sieht sich klar im Aufwind.

Allerdings sollte man vorsichtig sein, zu denken, der weitere Krieg werde eine Fortschreibung der Situation sein, wie wir sie heute erleben. Das gilt für die russischen Phasen der Schwäche wie im Herbst vergangenen Jahres genauso wie für die russischen Phasen der Stärke, wie wir sie jetzt erleben. Die russischen Ressourcen sind nicht enden wollend. Auch der Westen kann sich ja durchaus noch mal zusammenreißen. Und dann wären die Zeiten für Russland wieder prekärer.

"Russen an fast allen Frontabschnitten in der Offensive"

tagesschau.de: Die aktuellen Luftangriffe sind das eine. Aber wie beurteilen Sie gerade die Kräfteverhältnisse an der Front?

Gressel: An der Front ist es für die Ukraine jetzt auch eine sehr schwierige Situation. Die Gegenoffensive im Sommer hat nicht die erhofften Geländegewinne gebracht. Damit ist die Front aus ukrainischer Sicht noch sehr lang, sehr schwierig zu beschützen. Die Ukraine hat ein Problem, dass sie ihre Kräfte sehr lange im Krieg stehen hat, dass viele Soldaten jetzt auch nach zwei Jahren müde sind.

Man weiß nicht, wann man Materialnachschub aus dem Westen bekommt. Man weiß nicht, wie lange man aushalten muss mit dem, was man hat. Es gibt viele Probleme mit Ersatzteilen, nicht nur für "Leopard"-Panzer, wie es durch die Medien geht. Auch für viele Artilleriesysteme gibt es keine Wechselrohre. Dementsprechend sind die Russen auch an fast allen Frontabschnitten in der Offensive.

Allerdings aus einer positiven Sicht für die Ukraine: Die russischen Verluste sind bei diesen Offensivversuchen enorm hoch und übersteigen das, was die russische Rüstungsindustrie nachproduzieren kann. In dem Sinn, wenn man auf ukrainischer Seite die eigenen Verluste minimieren kann, nutzt man die russische Armee damit natürlich schon ab. Und in der nächsten Schwächephase, wenn das Offensivpotenzial der Russen erschöpft ist, kann das die Ukraine vielleicht auch wieder nutzen.

"Bei der Munitionsherstellung auf die USA angewiesen"

tagesschau.de: Die USA diskutieren gerade noch über die Fortsetzung der militärischen und finanziellen Hilfe für die Ukraine. Wären Deutschland und die anderen EU-Staaten überhaupt in der Lage und wären sie bereit dazu, die US-Hilfen gegebenenfalls zu ersetzen?

Gressel: Rein auf dem finanziellen Sektor, also die Unterstützung für das ukrainische Staatsbudget, damit die Ukraine Gehälter weiterzahlen kann und der Regelbetrieb des Staates und der Verwaltung des Gesundheitssystems weiterläuft: Das wären die Europäer willig zu stemmen. Das wären sie auch fähig zu stemmen.

Bei der militärischen Unterstützung sieht es anders aus, weil natürlich die Herstellung von Munition, vor allen Dingen von spezialisierter Munition in verschiedenen Klassen, in den USA liegt. Und hier ist man auf die USA angewiesen. Leider ist es eben um die europäische Munitionsherstellung nicht sehr gut bestellt.

"Gibt kein Angebot auf russischer Seite"

tagesschau.de: Zahlen aus dem Dezember zeigen, dass 74 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer immer noch keinen Meter des eigenen Territoriums an Russland abgeben wollen, auch wenn das den Krieg verlängern könnte. Das ist nach wie vor die große Mehrheit. Wahr ist aber auch: Im Oktober waren es noch 80 Prozent. Man kann jetzt also auch sagen: Knapp ein Fünftel, 19 Prozent, würden ukrainisches Territorium an Russland abgeben, um schnellstmöglich Frieden im Land zu haben. Was bedeutet diese Entwicklung für das militärische Kräfteverhältnis?

Gressel: Diese Entwicklung bedeutet zurzeit noch nichts, weil es das Angebot auf russischer Seite noch nicht gibt. Da muss man schon ausformulieren: Welche Bedingungen, welche Territorien meint man konkret und was würde das für die Ukraine langfristig bedeuten?

Russland besteht darauf, dass die Ukraine, um überhaupt in Verhandlungen gehen zu können, die Annexionen Russlands anerkennen und sich aus diesen Gebieten zurückziehen muss [die Russland nur zum Teil erobert hat, Anm. d. Red.]. Das heißt, wir reden hier von großen Gebieten, von großen Städten wie eben Cherson, Saporischschja, die sich unter ukrainischer Kontrolle befinden, wir reden von größeren Territorien am rechten Ufer des Dnipro, und das ist ja nur eine Vorbedingung für Gespräche. Wenn diese 19 Prozent sagen, sie würden Gebiete abtreten, dann denken sie mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit an die Krim oder an Donezk. Aber nicht an Saporischschja.

"Ukraine hat eine reelle Chance"

tagesschau.de: Was würden Sie denn sagen: Hat die Ukraine nach wie vor eine reelle Chance, diesen Krieg für sich zu entscheiden?

Gressel: Sie hat eine reelle Chance. Auch wenn die Chance natürlich jetzt etwas schwindet. In der Ukraine gibt es positive Trends, die bei all dem, was wir über die letzten Tage sehen, ja unter den Tisch fallen. Es gibt eine Wiederbelebung der ukrainischen Rüstungsindustrie. Es gibt konzeptionelle Weiterentwicklungen, wie man mit Drohnen, wie man mit elektronischer Kampfführung umgeht, wie man es einbettet in den Kampf der verbundenen Waffen.

All das kann dazu führen, dass die Ukraine wieder die Initiative bekommt, wenn der Westen ihr hilft, diese schwierige Phase, in die sie jetzt geht, zu überstehen.

Das Gespräch führte Susanne Petersohn, WDR. Für die schriftliche Fassung wurde das Interview leicht angepasst.