Russlands Krieg Putins zwanghafter Irrglaube
Um sein Herrschaftsmodell zu retten, hat Wladimir Putin mit kruden Vorwürfen einen Krieg in Europa entfesselt. Es könnte sein, dass er das Gegenteil dessen erreicht, was er strategisch will.
Es herrscht Krieg in Europa, und über diesem Krieg steht ein Name: Wladimir Putin. Der von ihm angeordnete Angriff auf die Ukraine beendet ein wochenlanges Spiel mit Lügen, Täuschungen und Beteuerungen und stürzt einen ganzen Kontinent in Entsetzen, Wut und Verzweiflung.
Putins Kriegserklärung sagt - wie schon die Reden der vergangenen Tage - viel über ihn aus; über seine fast wahnhaften Verschwörungstheorien, seine notorischen Umzingelungsängste, seinen zynischen Umgang mit der Geschichte, die tiefe Verachtung für die Kultur der Ukrainer und vor allem seine manische Angst vor einem Volk, das vor allem seine Unabhängigkeit wollte und weiter will. Nichts wäre dem früheren KGB-Agenten fremder.
Angst vor dem westlichen Modell
Putins Angriff ist deshalb über die Ukraine hinaus ein Angriff auf die Werte, denen sich Europa gerade im Wissen um das Menschheitsverbrechen des Holocaust verschrieben hat: Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung. Diese tritt er im eigenen Land mit Füßen, und deshalb fürchtet er das westliche Modell in seiner Nachbarschaft.
Putin weiß sehr wohl, dass seine Macht nur geliehen und sein Herrschaftsmodell auf wackeligen Füßen steht - und wie schnell selbst große Imperien in sich zusammensacken können, hat er 1989 als einsame Stallwache in Dresden selbst erlebt. Dieses Trauma und diese gefühlte Demütigung stecken Wladimir Putin bis heute in den Knochen.
Projekt Spaltung
Warum es zum Auseinanderbrechen der Sowjetunion kam, hat Putin bis heute nicht verstanden. Stattdessen will er die post-sowjetische Ordnung zerstören. Putin hat, ganz im Geist seiner anti-westlichen und anti-demokratischen Ausbildung, über Jahre auf die Spaltung und Schwächung von EU und NATO hingearbeitet. Nun sieht er seine Chance gekommen, zumindest einen Teil der ehemaligen Sowjetunion zu restaurieren.
Ob dies nur ein erster Schritt oder aber der vorerst letzte Versuch sein wird, russische Hegemonie auszuweiten, steht dahin. Putin wird genau beobachten, wie der Westen auf diese Machtdemonstration reagiert. Für die NATO-Staaten bedeutet der Rückfall in das Denken des Kalten Krieges, dass sie ihre Verteidigungsfähigkeit stärken muss. Die EU muss endgültig ernsthaft - und schnell - über eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sprechen. Gelingt dies, hätte Putin am Ende exakt das Gegenteil dessen erreicht, was er strategisch will.
Bilder wie aus einer anderen Zeit
Doch das sind langfristige Überlegungen. Bis dahin wird die Bevölkerung der Ukraine den Preis für Putins Zwangsvorstellungen zahlen. Zu Beginn des Jahres 2022 müssen mitten in Europa wieder Menschen zu Zehntausenden aus ihren Städten fliehen und sich in U-Bahn-Schächten verstecken, während über ihre Häuser russische Granaten niedergehen.
Dass Putin auch in seinem Glauben, er könne einen großrussischen Geist herbeibomben, irrt und scheitern dürfte, wird für die Menschen in der Ukraine nicht mal ein schwacher Trost sein. Für sie geht es ums reine Überleben. Hier sollte Europa seine Stärke und Solidarität zeigen und die Grenzen für Flüchtlinge öffnen. Das gelebte Bekenntnis zu den eigenen Werten ist in diesen Tagen die wirksamste Antwort, die der Westen geben kann.
Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des jeweiligen Autors oder der jeweiligen Autorin wieder und nicht die der Redaktion.