Staats- und Regierungsschefs am Rande des NATO-Gipfels
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Bilanz des NATO-Gipfels Unnötige Enttäuschung

Stand: 12.07.2023 18:08 Uhr

Der Gipfel in Vilnius hat gezeigt, dass es den NATO-Staaten in Sachen Beitrittsperspektive für die Ukraine nicht nur an Geschlossenheit mangelt, sondern auch an Entschlossenheit.

Was für ein Kontrast. Bei seiner Rede im Zentrum von Vilnius wird der ukrainische Präsident von Tausenden Menschen gefeiert, vor der Bühne ein Meer aus blaugelben Flaggen, ein beeindruckendes Zeichen der Unterstützung und der Solidarität.

Der NATO-Gipfel dagegen endet für Wolodymyr Selenskyj mit einer Enttäuschung - auch wenn er nicht mit leeren Händen nach Kiew zurückfliegen muss. Allerdings dürften die versprochenen neuen Rüstungslieferungen, selbst wenn sie wie im Falle Deutschlands durchaus nennenswert sind, genauso wie die Gründung eines NATO-Ukraine-Rats zur Aufwertung der politischen Beziehungen, für ihn höchstens ein Trostpreis sein.

Nicht mehr als eine unverbindliche Formulierung

Denn was für Selenskyj entscheidend ist: Der so sehnlich erhofften konkreten Beitrittsperspektive ist sein Land in Vilnius kaum einen Schritt nähergekommen, obwohl NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg das Gegenteil behauptet. Zwar ist die Mehrheit der Bündnispartner dafür, der Ukraine einen Fahrplan für den weiteren Weg zur Mitgliedschaft anzubieten. Die Osteuropäer, die Balten, inzwischen sogar Frankreich.

Weil aber vor allem die USA und Deutschland auf der Bremse stehen - aus Sorge vor einem Automatismus, vor einer unkontrollierbaren Eskalation, die das westliche Verteidigungsbündnis im schlimmsten Fall zur Kriegspartei machen würde - konnte sich der Gipfel nur zu der unverbindlichen Formulierung durchringen, dass die "Zukunft der Ukraine in der NATO liegt". Wann auch immer das sein wird. Denn einen möglichen Termin dafür gibt es nicht.

Nachholbedarf bei der ukrainischen Armee?

Stattdessen werden als Voraussetzungen für eine Einladung in die Militärallianz nicht nur das Ende des Kriegs, sondern auch "Reformen im Bereich der Demokratie und des Sicherheitssektors" genannt. Sieht die NATO bei der ukrainischen Armee, die sich seit mittlerweile 500 Tagen gegen brutalste Angriffe aus Russland zur Wehr setzt, tatsächlich Nachholbedarf? Obwohl sie die Truppen trainiert und mit modernsten Waffen aufrüstet?

Und wenn das so ist, warum wird dann gleichzeitig bei der Ukraine auf das sonst übliche Heranführungsprogramm für Beitrittskandidaten großzügig verzichtet, das doch gerade die Annäherung an westliche Standards zum Ziel hat? Das passt alles nicht zusammen.

Die Alliierten können sich nicht einigen

Ja, es stimmt, natürlich hat der Gipfel auch greifbare Fortschritte gebracht. Die Aufnahme Schwedens ist nur noch Formsache, höhere Rüstungsausgaben sind vereinbart, die neuen militärischen Abwehrpläne werden die Abschreckung- und Verteidigungsfähigkeiten der Allianz stärken.

Was aber statt dieser vergleichsweise kleinteiligen Beschlüsse hängen bleiben wird, ist etwas ganz anderes. Nämlich, dass die NATO der Ukraine kein festes Beitrittsangebot machen will, weil sich die Alliierten nicht einigen können. Dass Sicherheitszusagen für das angegriffene Land den sieben großen Industrienationen überlassen werden. Dass es dem mächtigsten Militärbündnis der Welt nicht nur an Geschlossenheit mangelt, sondern ganz offensichtlich auch an Entschlossenheit.

Ein starkes Signal in Richtung Moskau, wie es eigentlich angekündigt war, sieht jedenfalls anders aus. Noch dazu hat der Gipfel in Vilnius der Ukraine und ihrem Präsidenten eine so erwartbare wie unnötige Enttäuschung bereitet. Dieses Treffen hätte sich die NATO wohl besser gespart. 

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Stephan Ueberbach, ARD Brüssel, tagesschau, 12.07.2023 17:13 Uhr