Flaggen wehen vor dem Gebäude des EU-Parlaments in Straßburg.
Kommentar

Kandidaten-Poker in Brüssel Die Krokodilstränen der EU-Abgeordneten

Stand: 04.07.2019 20:20 Uhr

Die EU-Abgeordneten zetern über die Personalie von der Leyen. Dabei waren doch sie es, die gegenseitig die Spitzenkandidaten demontierten. Viele sind nur Handlanger ihrer Regierungen, meint Markus Preiß.

Ein Kommentar von Markus Preiß, ARD Brüssel

Fühlen Sie sich auch getäuscht? Da ziehen Spitzenkandidaten in den Wahlkampf - und hinterher kommt keiner zum Zug. Für viele ist kaum zu begreifen, was wir in den letzten Tagen sehen. Und besonders heftig sind die Klagen darüber aus dem Europaparlament: "Verrat an der Demokratie", "Betrug am Wähler" schimpfen die Abgeordneten.

Und im Schimpfen - da sind sie auch gut. Nicht aber darin, Rückgrat zu zeigen und zu kämpfen - für ihr eigenes Versprechen, Europa demokratischer zu machen, für ihre Idee der Spitzenkandidaten. Macht, das hat die Geschichte gezeigt, muss erstritten werden. Wie naiv muss man in Straßburg sein, zu glauben, dass Machtmenschen wie Macron, Orban oder Salvini einem schlicht die Wünsche erfüllen?

Das Parlament ist mit Schuld - denn es hätte die Richtung viel stärker vorgeben können. Über Wochen aber waren die Abgeordneten unfähig, das zu tun, was sie von den Regierungschefs ganz selbstverständlich erwarten: Sich nämlich hinter einen der Kandidaten Weber, Timmermans oder Vestager zu stellen.

Stattdessen sah man viele Parlamentarier als Handlanger ihrer Regierungen. Erst galt das für Sozialisten und Liberale, die Weber bewusst mit demontierten. Und jetzt gilt es für die Christdemokraten der EVP: Tausend mal haben sie gesagt, wie wichtig Spitzenkandidaten sind - und nun organisiert Weber höchst selbst die Mehrheiten für die Nicht-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen. Brav und folgsam - statt Berlin und anderen Hauptstädten die Stirn zu bieten.

Das System der Spitzenkandidaten: Das Parlament hat uns Wählern eine Illusion kreiert, an die es selbst nicht glaubt. Die Abgeordneten brauchen daher keine Krokodilstränen über "Betrug am Wähler" zu vergießen: Wenn sie es ernst meinen, müssten sie von der Leyen durchfallen lassen. Tun sie es nicht, wissen wir, was ihre Schwüre wert sind. Und schlimmer noch: Sie besiegeln, was so viele Bürger jetzt zu Recht frustriert.

Redaktioneller Hinweis
Kommentare geben grundsätzlich die Meinung des jeweiligen Autors oder der jeweiligen Autorin wieder und nicht die der Redaktion.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 04. Juli 2019 um 22:15 Uhr.