Ein Jahr Ampel Die Bilanz ist besser als die Stimmung
Dauerkrisen und nervige Streiteren inmitten enormer Herausforderungen - dennoch hat die Ampel-Koalition im ersten Jahr ihrer Regierungszeit einiges umgesetzt.
Nach drei Jahren Pandemie und fast ein Jahr nach Putins Überfall auf die Ukraine sind viele Menschen müde und gereizt. Die Folgen von Inflation und hohen Energiepreise nagen am Wohlstand und drücken auf die Stimmung. Zumal längst nicht alle Entlastungsmaßnahmen schon spürbar sind. Entsprechend mau sind die Umfragewerte für die Ampel-Koalition ein Jahr nach der Regierungsübernahme.
Doch die Bilanz der Ampel ist besser als die Stimmung im Land. Nie zuvor stand eine neue Bundesregierung im ersten Amtsjahr angesichts eines fürchterlichen Krieges mitten in Europa vor solch großen Herausforderungen. Ja, viele Entscheidungen wie die Waffenlieferungen an die Ukraine oder die Verlängerung der AKW-Laufzeiten erfolgten zu zögerlich. Bei der Umsetzung wichtiger Vorhaben wie der Gas- und Strompreisbremse oder den Hilfsprogrammen für Bürger und Unternehmen wurden handwerkliche Fehler gemacht. In Sachen Entbürokratisierung, Digitalisierung und beim Bau neuer Wohnungen hat sich wenig oder gar nichts getan. Der anfängliche Teamgeist der "Fortschrittskoalition" wich schnell einem Regieren im Dauerkrisenmodus und nervigen Streitereien innerhalb der Koalitionäre.
Dennoch: Bei den entscheidenden Punkten hat die Ampel größtenteils geliefert. Außenpolitisch trug die Bundesregierung mit einem guten G7-Vorsitz dazu bei, dass sich Nato und EU nicht von Putin spalten ließen. Wirtschaftspolitisch gelang es innerhalb eines Jahres, Deutschland aus der gefährlichen Abhängigkeit von russischer Energie zu befreien. Rechtzeitig vor dem Wintereinbruch waren die Gasspeicher voll, und im Rekordtempo wurde das erste Flüssiggas-Terminal in Deutschland fertiggestellt.
Auch innenpolitisch wurden wichtige Ziele umgesetzt: Der Mindestlohn wurde erhöht. Hartz IV wird durch das Bürgergeld abgelöst. Eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine wurden aufgenommen. Der von vielen befürchtete "heiße Herbst" blieb aus - auch weil die Ampel aufkeimende Proteste mit Hilfsprogrammen in Höhe von 300 Milliarden Euro zuschüttete: der "Doppelwumms" und das Versprechen des Kanzlers, niemand werde im Stich gelassen: "You will never walk alone".
Norddeutsch-nüchtern, bisweilen arrogant
Der neue Bundeskanzler trat vor einem Jahr in die großen Fußstapfen seiner weltweit respektierten Amtsvorgängerin. Wie Angela Merkel ist auch Olaf Scholz kein charismatischer, aber ein hart arbeitender Kanzler. Mit seiner "Zeitenwende"-Rede im Bundestag schrieb Scholz schon jetzt Geschichte.
Doch ansonsten gehören Kommunikation oder Inspiration nicht zu seinen Stärken. Viele hätten sich angesichts der schwierigen Lage eine große Rede oder Fernsehansprache gewünscht, die Orientierung bietet und Mut macht. Lieber lässt Scholz Taten sprechen und wartet, bis er Ergebnisse verkünden kann. Norddeutsch-nüchtern wirkt Scholz, bisweilen auch arrogant, wenn er anderen vermittelt, er habe es schon immer besser gewusst.
Tatsächlich kann sich Scholz nach einem Jahr in vielem bestätigt fühlen. Der auch von Oppositionschef Friedrich Merz geforderte sofortige Ausstieg aus russischem Erdgas wäre verheerend für die deutsche Wirtschaft gewesen. Anstatt Forderungen nachzugeben, der Ukraine notfalls im Alleingang schwere Kampfpanzer vom Typ Leopard zu liefern, gelang Scholz die Balance, einerseits die Ukraine aktiv zu unterstützen und andererseits Deutschland nicht zur Kriegspartei zu machen. Wohlwissend, dass eine große Mehrheit der Bundesbürger dies ablehnt. Mit seiner vorab viel kritisierten China-Reise konnte Scholz immerhin bewirken, dass nun auch China Putin vor einem Einsatz von Atomwaffen warnt.
Vieles angekündigt, wenig umgesetzt
Auf solchen Erfolgen dürfen sich Scholz und seine Ampel-Koalitionäre jedoch nicht ausruhen. Es bleiben enorme Herausforderungen wie die Energie- und Klimawende. Vieles ist nur angekündigt, kaum etwas umgesetzt. Deutschland könnte zum Vorreiter und Marktführer für neue klimagerechte Technologien werden. Doch genauso droht Deutschland wegen seiner hohen Energiepreise das Abwandern vieler Industrieunternehmen.
Anspruch und Wirklichkeit klaffen auch bei der Bundeswehr weit auseinander: Das 100 Milliarden Euro schwere Sondervermögen verbesserte die jämmerliche Ausstattung der Bundeswehr bislang kaum. Angesichts der milliardenschweren Schattenhaushalte fragen sich nicht nur jüngere Menschen, wer den Schuldenberg später wieder abtragen wird.
Das erste Ampel-Jahr ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie schnell hehre Ziele in Koalitionsverträgen Makulatur werden. Wer hätte vor einem Jahr geahnt, dass heute ehemals friedensbewegte Grüne am lautesten schwere Waffen für die Ukraine fordern? Oder dass ausgerechnet der liberale "Lordsiegel-Bewahrer der Schuldenbremse" Christian Lindner als Finanzminister die meisten Schulden in kürzester Zeit machen musste? Oder dass der grüne Wirtschafts- und Klimaschutz-Minister Robert Habeck um die Welt reisen muss, um Gas einzukaufen und sich dafür vor dem Emir von Katar verbeugt?
Ungeachtet solch politischer Ironie: Das Zeugnis nach einem Jahr Ampel fällt insgesamt befriedigend aus. Mit besseren Noten in den Pflichtfächern, aber schlechteren Haltungsnoten.
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