Journalistin Rabea Westarp bei der Recherche
Exklusiv

Anzeigen auf Onlineportalen Wie Pädokriminelle Alleinerziehende ausnutzen

Stand: 14.02.2023 17:00 Uhr

Immer mehr Kinder werden im Internet sexuell belästigt. VOLLBILD-Recherchen zeigen, wie Pädokriminelle gezielt Kontaktanzeigen schalten, um über alleinerziehende Mütter an Kinder zu kommen.

Von Fabian Sigurd Severin, SWR

Pädokriminelle nutzen derzeit gezielt Kleinanzeigenportale, um nach alleinerziehenden Müttern mit Kindern zu suchen. Als erotischer Flirtpartner oder finanzieller Unterstützer getarnt, versuchen sie nach Recherchen des SWR-Investigativformats VOLLBILD, Alleinerziehende zu manipulieren, um später ihre Kinder sexuell zu missbrauchen.

Teilweise probieren Pädokriminelle auch, Kontakt mit Frauen zu knüpfen, die Kinderkleidung oder Spielzeug verkaufen. Das Bundeskriminalamt (BKA) bestätigte die Recherchen. Dabei werde die "unter Umständen schwierige (auch finanzielle) Situation, in der sich Alleinerziehende teilweise befinden können, gezielt ausgenutzt".

Kleinanzeigenbörsen im Fokus

Besonders verbreitet scheint diese perfide Strategie auf den Anzeigenplattformen Quoka und markt.de zu sein. Auf diesen können Nutzerinnen und Nutzer sowohl Kleidung, Möbel und Elektronik verkaufen, als auch Kontaktanzeigen aufgeben. In den vergangenen Wochen fand die VOLLBILD-Redaktion auf beiden Plattformen etwa ein Dutzend fragwürdiger Anzeigen dieser Art: "Männlich, suche Alleinerziehende, die es besonders schwer hat."

Auf Anfrage teilte markt.de mit, bereits gegen den Missbrauch der Plattform vorzugehen. Das Unternehmen habe eine eigene Abteilung, die sich mit Pädokriminalität beschäftige und mit den Ermittlungsbehörden zusammenarbeite. Um verdächtige Nutzer zu erkennen, setze die Seite KI-basierte Systeme ein. Mit "genügend krimineller Energie" sei es jedoch möglich, die Sicherheitsmaßnahmen zu umgehen, räumte markt.de ein. Quoka antwortete bis Redaktionsschluss nicht.

Das Vorgehen, über alleinerziehende Mütter Kontakte zu Kindern aufzubauen, gilt unter Pädokriminellen als erfolgversprechend. Das belegen "Handbücher für Pädophile". Diese sind in Deutschland verboten, kursieren aber unter anderem im Darknet.

Die VOLLBILD-Redaktion konnte Auszüge aus diesen "Handbüchern" einsehen. Hier heißt es beispielsweise: "Meine erste und allerbeste Empfehlung, um Kinder zu finden, ist es, romantische Beziehungen mit alleinerziehenden Müttern zu finden und aufzubauen." Detailliert wird beschrieben, wie Pädokriminelle am einfachsten mit Kindern in Kontakt kommen und sie anschließend missbrauchen können.

Cybergrooming nimmt deutlich zu

Trotzdem kontaktieren die Täter laut BKA die Kinder weiterhin meist direkt, denn der Kontakt über Plattformen sei vergleichsweise riskant. Die Anbahnung eines sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen über das Internet nennt sich Cybergrooming. "Was die digitalen Medien verändert haben, ist die Möglichkeit, aus der Ferne Kinder und Jugendliche vor der Kamera zu missbrauchen", erklärte Julia von Weiler. Sie leitet den Hilfsverein Innocence in Danger, der sich gegen sexuellen Missbrauch von Minderjährigen einsetzt.

Cybergrooming-Fälle werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht gesondert erfasst. Man kann jedoch davon ausgehen, dass es sich bei einem Großteil der Fälle des Straftatbestands "Einwirken auf Kinder nach § 176 Abs. 4 StGB (Tatmittel Internet)" um Cybergrooming"-Fälle handelte. Demnach ist die Anzahl von 1754 Fällen im Jahr 2019 auf 3539 Fälle im Jahr 2021 gestiegen. Nichtregierungsorganisationen vermuten, dass die Dunkelziffer deutlich größer ist.

Hinweise darauf gibt unter anderem eine Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest aus dem Jahr 2022. Ihr zufolge wurde bereits jeder vierte Jugendliche im Internet mit Cybergrooming konfrontiert.

Entscheidende Hinweise aus den USA

Oft schreiben Täter Kinder privat über Soziale Medien oder die Chatfunktion von Videospielen an. Die Chats sind meist verschlüsselt, was die Ermittlungen der Kriminalpolizei erschwert. Entscheidende Hinweise für mutmaßlichen Kindesmissbrauch im Internet kommen laut Bundesinnenministerium aus den USA, denn die Betreiber von US-amerikanischen Chat- und Gamingplattformen sind gesetzlich verpflichtet, strafrechtlich relevante Inhalte an das National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) zu melden.

Die Nichtregierungsorganisation setzt sich für den Schutz von Minderjährigen ein. Liegen dem NCMEC Anhaltspunkte vor, "dass sich der Täter zur Tatzeit in Deutschland aufhalten könnte - beispielsweise über die lokale Zuordnung der IP-Adresse - werden diese Hinweise an das BKA übermittelt", teilte das Bundesinnenministerium auf VOLLBILD-Anfrage mit.

Allein von 2020 auf 2021 war laut BKA ein drastischer Anstieg von Fällen der Verbreitung, des Erwerbs, des Besitzes und der Herstellung von Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder zu verzeichnen. Lag die Zahl 2020 noch bei 18.761 Fällen, stieg sie 2021 auf 39.171 Fälle. Im Netz finden sich auch viele kinder- und jugendpornografische Inhalte, die von Minderjährigen selbst hergestellt wurden.

Allein von 2019 bis 2021 habe sich die Anzahl an Webseiten, auf denen von Minderjährigen selbst erstellte kinder- und jugendpornografische Abbildungen zu finden sind, fast verfünffacht. Das geht aus den jüngsten Erhebungen der Internet Watch Foundation hervor, einer britischen Meldestelle für sexuellen Missbrauch im Internet.

Selbst erstellt bedeutet laut Psychologin von Weiler jedoch meistens nicht, dass Kinder freiwillig Nacktbilder von sich verschickten oder selbst auf die Idee kämen, in Videochats zu masturbieren. Häufig würden sie von ihrem Gegenüber dazu gedrängt - unter anderem auf Livestreamplattformen.

Kindesmissbrauch im Livestream

Die Website Omegle ist nach VOLLBILD-Recherchen eine der Plattformen, über die verstärkt Kindesmissbrauch per Livestream praktiziert wird. Auf der Website werden Nutzer per Zufallsprinzip mit einer fremden Person irgendwo auf der Welt verbunden. Sie können das Gegenüber im Videochat sehen, mit ihm reden und ihm schreiben.

Omegle existiert bereits seit 2009, hat aber durch die Social-Media-App TikTok unter jungen Menschen aktuell wieder an Beliebtheit gewonnen. Dort erreicht der Hashtag #omegle rund elf Milliarden Aufrufe.

In einem Selbstexperiment gab sich eine VOLLBILD-Journalistin bei Omegle als 13-Jährige aus. In einer halben Stunde chattete sie mit insgesamt zehn Männern. Von sieben Männern wurde sie im Videochat sexuell belästigt. Einmal wurde sie aufgefordert, ihre Brüste zu zeigen. Mehrfach masturbierten Männer während des Gesprächs; zwei von ihnen zeigten sogar ihr Genital in der Kamera. Das BKA teilte auf Anfrage mit, das Vorgehen von Tätern über Livestreamplattformen wie Omegle sei den Ermittlern bekannt.

Omegle erklärte VOLLBILD gegenüber, die Plattform nehme die Sicherheit der Nutzer sehr ernst. Obwohl die Nutzer allein für ihr Verhalten bei der Nutzung der Website verantwortlich seien, habe Omegle sowohl KI-Tools als auch menschliche Moderatoren eingeführt. Die Nutzung der Plattform ist erst ab 18 Jahren zugelassen. Um das Alter zu bestätigen, müssen Nutzer bislang aber nur einen Klick tätigen.

EU plant Verordnung

Für das Bundesinnenministerium habe die Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder "höchste Priorität", erklärte eine Sprecherin auf Anfrage.

Derzeit werde in der EU der Entwurf einer Verordnung verhandelt, bei dem auch die Plattformen stärker in die Pflicht genommen werden sollen. "Mit dem vorliegenden Kommissionsentwurf werden erstmals EU-weit einheitliche Rechtsgrundlagen für Maßnahmen der Diensteanbieter im Kampf gegen sexuellen Missbrauch geschaffen", teilte das Bundesinnenministerium mit.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, von 2019 bis 2021 habe sich die Zahl der gemeldeten Cybergroomingfälle mehr als verdoppelt. Dabei wurde Bezug genommen auf die in der Polizeilichen Kriminalstatistik unter dem Straftatbestand "Einwirken auf Kinder nach § 176 Abs. 4 StGB (Tatmittel Internet)" erfassten Fälle. Zwar ist nach BKA-Angaben davon auszugehen, dass es sich bei einem Großteil dieser Fälle um Cybergrooming-Fälle handelt, es können jedoch auch andere Straftaten in dieser Fallkategorie erfasst worden sein. Dies wurde in der neuen Fassung des Textes präzisiert.