Ein Mann steht auf einem Steg am See
exklusiv

Heilpraktiker-Schule Albtraum statt Ausbildung

Stand: 10.05.2023 08:57 Uhr

Heilpraktikerschulen unterliegen in Deutschland keiner staatlichen Regulierung. Wie Vollbild-Recherchen zeigen, ermöglicht das fragwürdige Lehren und unseriöse Behandlungsmethoden. Kontrolle? Fehlanzeige.

Von Rabea Westarp, SWR

"Mit etwas Fantasie erkennt man oft die wahren Hintergründe der Schmerzattacken", heißt es im Unterrichtsmaterial einer Hamburger Heilpraktiker-Schule, das der Redaktion des SWR-Investigativformats Vollbild vorliegt. Man solle in der Diagnostik einfach mal die Fantasie spielen lassen.

Die Schule, deren Ausbildungsschwerpunkt nach eigenen Angaben auf dem Gebiet der Psychosomatik liegt, führt in dem Lehrmaterial zahlreiche körperliche Leiden auf vermeintliche, auch lange zurückliegende Missbrauchserlebnisse des Patienten zurück. "Einrisse im Mundwinkel haben oft ihre Ursache in einer gewaltsamen Oralverkehrspraktik", heißt es an einer Stelle. Und weiter: "Engegefühl im Halsbereich rührt oft vom Würgen (als Lustverstärkung für den Täter)."

Diese Herleitung sei "vollkommen unzulässig", kritisiert Peter Henningsen, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der TU München, die Aussagen aus dem Lehrmaterial. "Man kann nie aus der Tatsache, dass jemand Würgegefühle hat, automatisch auf so einen Hintergrund rückschließen." Er fügt hinzu: "Bei Hautveränderungen oder Rissen im Mundwinkel ist es nochmal schwieriger, sich so einen Zusammenhang auch nur im Einzelfall vorzustellen."

Der Schulleiter der Hamburger Heilpraktiker-Schule verteidigt jedoch auf Vollbild-Anfrage die im Lehrmaterial propagierten fragwürdigen Herleitungen und hält weiter daran fest.

Analyse: 83 Prozent erfüllen die Richtlinien nicht

In Deutschland gibt es mehr als 150 Heilpraktikerschulen. Im Durchschnitt kostet eine Heilpraktikerausbildung mehrere Tausend Euro. Eine einheitliche und staatliche Regelung gibt es für die Ausbildung nicht. Das führt zu Wildwuchs, wie die Vollbild-Recherchen zeigen. Die Lehrpläne sind meist von den Schulen selbst erstellt.

Neben medizinischen und psychologischen Inhalten bieten die Schulen oft auch Seminare an, die nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Auf den Lehrplänen stehen mitunter Kurse wie Astrologie, Homöopathie oder so genannte Quantenheilung. Heilpraktikerverbände geben zwar Ausbildungsrichtlinien vor. Diese werden allerdings von etwa 83 Prozent der Schulen nicht erfüllt, wie eine Analyse von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universitätsklinik Jena und des Ortenau Klinikums Offenburg zeigt.

Am Beispiel einer Hamburger Heilpraktiker-Schule versuchte eine Vollbild-Reporterin in einer monatelangen Undercover-Recherche und durch zahlreiche Gespräche mit ehemaligen Schülerinnen und Schülern, Expertinnen und Experten sowie anhand von Unterrichtsmaterial herauszufinden, welche Lehren und Unterrichtsmethoden in der unregulierten Heilpraktiker-Ausbildung möglich sind und verbreitet werden können.

Schwerwiegende Vorwürfe ehemaliger Schüler

Im Unterricht an der Hamburger Schule, an dem die Vollbild-Reporterin verdeckt teilnimmt, stellen Dozentinnen ähnlich fragwürdige Bezüge her wie im vorliegenden Lehrmaterial. So könne beispielsweise eine früh eintretende Periode bei jungen Mädchen ein Indiz für erlebten Missbrauch sein; eine späte erste Menstruation aber ebenso, heißt es im Unterricht.

Gegen die Hamburger Heilpraktiker-Schule erheben ehemalige Schüler zudem schwerwiegende Vorwürfe. Statt einer Ausbildung hätten sie einen Albtraum erlebt. So seien sie an der Schule von ihrem Umfeld isoliert und dazu gedrängt worden, Kontakte zur Familie abzubrechen. "Ohne uns bist du nichts. Das kam so oft und ich habe dann leider auch dran geglaubt, weil ich ja dann alleine war. Hätte ich niemanden mehr von der Schule gehabt, dann wäre ich wirklich komplett alleine gewesen", erklärt ein ehemaliger Schüler im Interview mit Vollbild. "In der Zeit habe ich auch zum ersten Mal daran gedacht: Sind wir hier in einer Art Sekte?"

Heilpraktiker-Schule ist bei Sektenberatungen bekannt

Ein Sektenberater, der anonym bleiben will, gibt an, dass seit 2010 jährlich ein bis zwei Personen bei ihm Beratungen zu dieser Schule in Anspruch genommen hätten. Auch Bianca Liebrand von der Sekteninfo NRW stand in den vergangenen Jahren mit Angehörigen von Schülern in Kontakt, die den Kontakt abgebrochen hätten. Die Angehörigen hätten Vorwürfe gegen die Schule erhoben: "Es wird auch berichtet, dass sich die Persönlichkeit verändert habe. Und darüber macht man sich dann schon Sorgen", erklärt die Expertin. "Meistens ist das ein schleichender Prozess, also dass es nach und nach immer weniger Kontakt wird, bis er dann ganz zum Erliegen kommt."

Den Sektenvorwurf weist der Schulleiter gegenüber Vollbild zurück: "Mit der Behauptung, wir seien eine Sekte, sind wir seit geraumer Zeit konfrontiert und sind mit dieser immer sehr offen umgegangen, da wir keine Sekte sind." Weitere Vorwürfe ehemaliger Schüler bestreitet der Schulleiter ebenfalls: Die Behauptung von Suggestion, Nötigung, Zwang oder Pauschalisierung sei schlichtweg falsch. Er sei gerne bereit, sich ihnen gegenüber "in einem persönlichen Gespräch außerhalb der Öffentlichkeit den Fragen zu stellen".

Krebserkrankung sei selbst zu verantworten

Um den Behandlungsmethoden näher auf den Grund zu gehen, ließ sich die Vollbild-Reporterin im Undercover-Selbstversuch außerdem in der mit der Schule verbundenen Heilpraxis der Schulleiterin von ebendieser behandeln. Sie stellte schon in der ersten Sitzung fest: Die Ischias-Beschwerden der Reporterin habe ihre Mutter auf sie übertragen, weshalb sie die Bindung zu dieser lösen sollte.

In der zweiten Sitzung empfahl sie, den krebskranken Großvater nicht mehr zu besuchen. Als die Schulleiterin erfuhr, dass der erkrankte Opa von Sternzeichen Krebs sei, schlussfolgerte sie: "Krebs kriegt Krebs." Die Krebserkrankung sei dadurch bedingt, dass er nichts für seine Seele getan habe. Und weiter laufe die Patientin Gefahr, die Krebssymptome des Großvaters zu übernehmen, wenn sie ihn besuche.

Keine Behörde für Heilpraktikerschulen zuständig

Vollbild hat mehrere große deutsche Heilpraktikerverbände gebeten, die Recherchen zur Hamburger Heilpraktiker-Schule sowie zur damit verbundenen Heilpraxis einzuordnen. Der Verband Unabhängiger Heilpraktiker schreibt zu Inhalten des Unterrichtsmaterials: "Wir gehen davon aus, dass man sich bei der Erstellung des Materials wenig Gedanken gemacht hat, was zulässig ist und was nicht."

Der Verband verweist zudem auf die Möglichkeit, sich bei der zuständigen Aufsichtsbehörde oder beim zuständigen Berufsverband zu beschweren. Doch nicht alle Heilpraktikerschulen gehören einem Verband an. Im Fall der Hamburger Heilpraktiker-Schule, die im Zentrum der Vollbild-Recherchen steht, waren die beiden Schulgründer an der Gründung eines Hamburger Heilpraktiker-Verbands beteiligt. Aktueller Vorsitzender ist immer noch einer der Schulleiter.

Die auf der Homepage der Schule als "Aufsichtsbehörde" angeführte Hamburger Gesundheitsbehörde erklärt auf Vollbild-Anfrage, für Heilpraktikerschulen bestehe keine behördliche Aufsicht. Für eine Erlaubnis, um nach dem Heilpraktikergesetz als Heilpraktiker zu arbeiten, sei keine Ausbildung erforderlich. Insofern seien weder mögliche Ausbildungen noch Einrichtungen, die solche Ausbildungen anbieten, staatlich reglementiert. Die Behörde sei daher für die Schule nicht zuständig und könne auch inhaltlich zu den Vorwürfen keine Stellung nehmen.

Behörde verweist auf "Therapie- und Methodenfreiheit"

Anhaltspunkte für ein "Tätigwerden" mit Blick auf die Methoden in der Heilpraxis der Schulleiterin sehe sie ebenfalls keine. Die Hamburger Gesundheitsbehörde verweist auf die "Therapie- und Methodenfreiheit" gemäß Heilpraktikergesetz.

Angesichts der offenkundigen Gesetzeslücke bei der Heilpraktiker-Ausbildung fragte Vollbild das Bundesgesundheitsministerium, ob es Handlungsbedarf sehe und eine gesetzliche Kontrolle von Heilpraktikerschulen für notwendig halte. Doch das Ministerium äußert sich nur ausweichend: "Gegebenenfalls" solle das Heilpraktikergesetz in Zukunft reformiert werden.

Rabea Westarp, SWR, tagesschau, 10.05.2023 05:35 Uhr