Naturschutz Wenn der Wald verschwindet
Immer wieder kommt es zu Baumfällungen in Waldschutzgebieten, seit Anfang 2022 mindestens 300 Mal. Experten sehen erhebliche Schäden für gefährdete Arten. Naturschutzbehörden bleiben häufig außen vor.
Mitte Oktober: Grumbach in Thüringen, direkt an der bayerischen Grenze. Einer dieser Tage, an denen Nathalie Bothner sich wieder einmal vorkommt wie in einem falschen Film. Die Bürgermeisterin steht in einer kargen Landschaft, die einmal ein Wald war.
Jetzt sieht man hier fast nur noch Baumstümpfe. "Es war schattig, grün, mit Moos. Alles was man sich von einem Wald so wünscht", so Bothner, die fast jeden Tag mit ihren Hunden hier spazieren ging. Jetzt sei hier fast gar nichts mehr.
Strenge Vorgaben durch Bundesnaturschutzgesetz
"Es ist wirklich schlimm", sagt die Bürgermeisterin. Nicht zuletzt auch deshalb, weil das Gelände Teil eines europäischen Vogelschutz-, eines sogenannten Natura-2000-Gebiets ist. Seit den 1990er-Jahren gibt es sie: Gebiete, in denen strenge gesetzliche Vorgaben gelten, geregelt etwa im Bundesnaturschutzgesetz.
Eingriffe sind demnach grundsätzlich unzulässig, sofern sie dem Erhaltungsziel des Gebiets, also den geschützten Arten und Lebensräumen erheblich schaden. So sollen etwa gefährdete Arten vor dem Aussterben bewahrt werden, wie etwa der Grauspecht oder das Haselhuhn. Beide stehen auf der sogenannten Roten Liste, beide kamen auch im Schutzgebiet in Grumbach vor.
Der Wald in Grumbach gehörte eigentlich zu einem Natura-2000-Gebiet, für das strenge gesetzliche Vorgaben gelten.
Ein Gebiet, in dem seit März Bäume geschlagen werden, ohne Unterbrechung. Vermutlich bis in den November hinein, schreibt der Waldbesitzer, der sogenannte Bundesforst, eine Abteilung der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Gegenüber Report Mainz begründet sie die Maßnahmen mit dem Borkenkäfer, schließt aber gleichzeitig "erhebliche Beeinträchtigungen der Erhaltungsziele des Natura-2000-Gebiets" aus. Brutstätten, sofern vorhanden, habe man zudem stehen lassen. Mit anderen Worten: Der Wald ist weg - kein großes Problem für die geschützten Tiere.
Experte: Wirtschaftliche Zwänge bei Försterinnen und Förstern
Für Pierre Ibisch, Professor an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung, ist das ein Beispiel unter vielen, vor allem bei öffentlichen Forstämtern, die den Großteil der geschützten Wälder in Deutschland bewirtschaften. "Vielleicht fehlt in manchen Fällen schlicht die ökologische Kenntnis", sagt er. "Selbstverständlich ist es für Waldarten eine erhebliche Verschlechterung, wenn die Bäume weg sind."
Es reiche auch nicht aus, nachzuprüfen, ob irgendwie da noch ein Nest vorhanden oder Vögel akut präsent waren, als die Räumung erfolgte, so Ibisch. "Letztlich geht es ja um einen Lebensraum, einen potenziellen Lebensraum in Zukunft." Das gelte gerade auch für sterbende Bäume, die gefährdeten Arten ein Zuhause böten, während sie für den Forst ein Minusgeschäft seien.
Widersprüchliche Zielvorgaben
Auch Forstwissenschaftler wie Klaus Pukall von der TU München beobachtet immer wieder einen zum Teil schwierigen Umgang der eigenen Zunft mit den ihnen anvertrauten Schutzgebieten: "Man merkt, wenn man mit Förstern im Staatswald spricht, dass sie immer wieder widersprüchliche Zielformulierungen bekommen."
Die meisten Forstämter seien heute wie Wirtschaftsbetriebe organisiert - mit klaren Vorgaben hinsichtlich der zu schlagenden Holzmenge. "Und auf der anderen Seite ist die Forderung da, setzt bitte die FFH-Richtlinie vorbildlich um. Da merkt man schon, dass sehr häufig der Konflikt auf den einzelnen Förster herunter delegiert wird, der das mehr oder minder gut löst."
Naturschutzbehörden bleiben oft außen vor
Das Problem an all dem ist: Es findet meist im Verborgenen statt. Denn wie oft es in Schutzgebieten zu einem Eingriff kommt, weiß keiner so genau. Bundesregierung und auch Landesforstbetriebe können auf Anfrage keine Zahlen nennen.
Auch die meisten unteren Naturschutzbehörden geben sich auf Anfrage von Report Mainz ahnungslos. Laut Auswertung der Antworten gab es seit Anfang 2022 mindestens 300 Eingriffe in Natura-2000-Gebiete im Wald. Die Dunkelziffer dürfte erheblich höher sein.
"Das Problem ist, dass sich Förster quasi selbst attestieren können: Alles, was ich jetzt bei mir im Wald tun werde, ist in Ordnung", sagt ein Mann, der bis vor einem Jahr selbst einmal leitender Forstdirektor war. Jetzt leitet Volker Ziesling eine Bürgerinitiative, streitet bundesweit immer wieder mit seinen ehemaligen Kollegen über Baumfällungen in Natura-2000-Gebieten. "In der Regel reicht für die Förster ein Formblatt. Unterschrift, Datum, zwei Löcher rein und das Papier verschwindet im Aktenordner."
Förster bewertet selbst
Der Förster bewerte damit, ob seine Baumfällungen dem Schutzgebiet im Sinne des Bundesnaturschutzgebiets erheblich schaden können oder nicht - verneint er die Frage, müsse er nicht einmal die zuständige Naturschutzbehörde informieren. So ist es in den meisten Bundesländern sogar ganz offiziell geregelt.
"Die Naturschutzbehörden erfahren das nur, wenn sie sich aktiv bei den Förstern melden", bestätigt auch ein Abteilungsleiter eines Landesforstbetriebs, der anonym bleiben will. "Die kommen aber gar nicht dazu, wegen absoluter personeller Unterbesetzung."
Das zeigt auch die Umfrage unter allen unteren Naturschutzbehörden, an denen sich bundesweit 30 Prozent beteiligt haben. Mehr als ein Drittel davon gibt an, nicht genug Personal zu haben, um die Anforderungen aus dem Bundesnaturschutzgesetz zu erfüllen.
Bundesregierung sieht keinen Handlungsbedarf
Auch in Grumbach wurde die untere Naturschutzbehörde vor Beginn der Fällungen nicht einbezogen, bestätigt der Bundesforst. Die Entscheidung über die Erheblichkeit traf die Behörde selbst. Erst einen Monat nach Beginn der Arbeiten gab es demnach Termine mit dem zuständigen Landkreis. Da waren ein großer Teil der Bäume aber schon weg.
"Wir brauchen dringend eine unabhängige Kontrolle und Prüfung solcher Dinge", sagt Ibisch. "Wir sind ein ganz schlechtes Vorbild in vielerlei Hinsicht, gerade im Bezug auf die streng geschützten Gebiete." Der Waldbiologe sieht vor allem auch die Bundesregierung in der Pflicht, die gerade hinter den Kulissen an einem neuen Waldgesetz arbeitet.
Doch die sieht auf Nachfrage keinen Änderungsbedarf auf Bundesebene. Umwelt- und Landwirtschaftsministerium schreiben gemeinsam, die Umsetzung bestehender Regelungen in Natura-2000-Waldgebieten sei nach eigenem Kenntnisstand "grundsätzlich nicht zu beanstanden", auch wenn Zahlen dafür auch der Bundesregierung nicht vorliegen.