LGBTIQ+ in Afghanistan Von der Bundesregierung vergessen
In Afghanistan verfolgen die Taliban homosexuelle und transgeschlechtliche Menschen. Ausgerechnet diese hatten bislang kaum eine Chance auf Aufnahme in Deutschland. Ein neues Programm der Bundesregierung soll das ändern - für viele zu spät.
Ali Tawakolis Handy klingelt im Minutentakt. Er tippt Nachrichten ein, telefoniert. Der 30-jährige Afghane spricht mit verfolgten Homosexuellen und Transgeschlechtlichen in Afghanistan. Sie sind verzweifelt. Eine Frau am Telefon berichtet, sie werde von den Taliban gesucht, weil sie trans sei. Sie habe Angst um ihr Leben. "Ich höre jeden Tag, dass jemand verhaftet oder gefoltert wurde. Jeden Tag erreichen mich solche Nachrichten", erzählt Tawakoli. Die Gewalt gegen LGBTIQ+ (lesbisch, gay/schwul, bisexuell, transgeschlechtlich, intersexuell und queer) habe eine neue Qualität erreicht.
Ali Tawakoli spricht jeden Tag mit verfolgten Menschen aus seiner Heimat.
Auch Ali Tawakoli selbst hat diese Gewalt erlebt. Er wurde von den Taliban gefoltert, hat schwer verletzt überlebt und ist einer von mindestens 80 homosexuellen und transgeschlechtlichen Aktivisten, die nach Angaben des Auswärtigen Amtes nach der Machtübernahme der Taliban nach Deutschland kamen. Homosexuelle und transgeschlechtliche Menschen hatten bisher kaum bis gar keine Chance auf eine Aufnahmezusage. "Die Bundesregierung hat uns vergessen", sagt der Aktivist.
Kriterium: Exponiertheit
Vor mehr als ein Jahr, als die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, versprach die Bundesregierung schnelle Hilfe. Ortskräfte der Bundeswehr, anderer Organisationen und besonders gefährdete Personen durften mit humanitären Visa ausreisen, darunter Aktivisten wie Ali Tawakoli. Als Kriterium galt die Exponiertheit.
Queere Menschen mussten also gleichzeitig Aktivisten sein, um für so ein Visum infrage zu kommen. "Aber sich zu engagieren oder gar sich zu outen, ist für viele in Afghanistan unmöglich. Sie wurden auch schon vor den Taliban ermordet", erzählt er. Viele, so schildert es Ali Tawakoli, hätten sich unsichtbar gemacht, um sich zu schützen - und wurden von der Bundesregierung übersehen.
Kaum Chancen auf Visum
Trotz geringer Chancen für die Betroffenen auf ein Visum haben er und Jörg Hutter vom queeren Verein Rat und Tat in Bremen bisher 200 Anträge beim Auswärtigen Amt eingereicht. Zusammen sind das Hunderte Seiten, wie sie am Laptop zeigen. Es sind grausame Bilder. Männer, von den Taliban ausgepeitscht, mit Messern verletzt oder verbrannt.
Vom Auswärtigen Amt hätten weder sie, noch die Betroffenen bisher eine Antwort erhalten. Dabei hätte die Bundesregierung die Möglichkeit gehabt, die humanitären Visa auch auf Gruppen wie die queere Community auszuweiten, sagt der Anwalt für Asyl und Menschenrecht, Jens Dieckmann. "In humanitären Katastrophenlagen bietet § 22 des Aufenthaltsgesetzes der Bundesregierung die Möglichkeit, Personengruppen politisch zu definieren, denen sie wegen der besonderen Bedrohungslage ein solches Visum gewähren", erklärt Dieckmann.
"Ich bin sehr sehr wütend, weil ich das Gefühl habe, dass uns keiner zuhört - nicht nur jetzt, sondern seit Monaten", sagt Tawakoli.
Ministerium: Kaum Absagen erteilt
Das Auswärtige Amt gebe keine Meldungen zum Bearbeitungsstand von Anträgen, schreibt das Ministerium auf Anfrage. Absagen würden in der Regel nicht erteilt. Weiter heißt es, der Bundesregierung sei bewusst, dass ein öffentliches Engagement von LSBTI-Verteidiger und Verteidigerinnen in Afghanistan schon vor Machtübernahme der Taliban sehr schwer war, was jetzt umso mehr gelte.
Organisationen und Verbände wie der LSVD - Lesben- und Schwulenverband in Deutschland e. V. haben lange einen besseren Schutz für queere Afghaninnen und Afghanen gefordert. "Wir haben immer wieder darauf gedrängt, dass die Kriterien des Brückenprogramms geändert werden, jedoch ohne Erfolg", sagt Patrick Dörr vom LSVD. In Anbetracht der systematischen Verfolgung und Auslöschung der LSBTI-Community, die die Taliban betreiben, sei "jeder Tag des Wartens auf das neue Bundesaufnahmeprogramm ein Tag zu viel", betont er.
Bereits viele Todesopfer
Viele homosexuelle und transgeschlechtliche Menschen hätten die Gewalt durch die Taliban nicht überlebt, sagt Ali Tawakoli. "Seitdem ich in Deutschland lebe, sind viele LSBTI in Afghanistan gestorben", erzählt er. Wie hoch die Zahl derer, die gestorben sind ist, ist schwer zu beziffern. Organisationen wie Human Rights Watch berichten ebenfalls von systematischer Verfolgung durch die Taliban, von Folter und Hinrichtungen, bei denen Homosexuelle und Transgeschlechtliche gesteinigt oder lebendig begraben werden.
Seit dem Fall von Kabul ist mehr als ein Jahr vergangen. Erst jetzt, in dieser Woche, hat die Bundesregierung ein Aufnahmeprogramm vorgestellt, das neben politisch besonders exponierten Gruppen wie Menschenrechtsaktivisten, Journalisten oder Politikern auch Menschen berücksichtigt, die "aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität (…) eine sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalles ergebende spezifische Gewalt oder Verfolgung erfahren bzw. erfahren haben", heißt es aus dem Bundesinnenministerium und dem Auswärtigen Amt.
Die Hürden sind auch diesmal hoch. Die Anträge dürfen nur von Menschen gestellt werden, die in Afghanistan leben und nur durch zwischengeschaltete Partnerorganisationen der Bundesregierung.
Organisationen vor Ort helfen
Dies sei ein pragmatischer Umgang, der in der Situation nachvollziehbar sei, sagt Menschenrechtsanwalt Jens Dieckmann. "Wenn man als Bundesregierung Partnerorganisationen hat, die in der Region verankert sind, hat man die Chance, dass man wirklich an die Menschen herankommt, die schutzbedürftig sind", sagt Dieckmann. Sie könnten vor Ort besser einschätzen, wie man die Menschen sicher außer Landes bringt.
Der LSVD sieht die neuen Kriterien kritisch. Es fielen erneut Menschen aus dem Raster, so die Kritik. "Trotzdem sind wir froh, dass das Programm endlich startet und die vielen Fälle, die bereits gemeldet wurden, nun geprüft werden können", erklärt Patrick Doerr. Ali Tawakoli hofft trotzdem, dass zumindest einige gerettet werden. Dafür möchte er sich weiterhin einsetzen.