Mutmaßliche sexuelle Übergriffe Neue Vorwürfe gegen Rammstein
Begleitet von Protesten gibt Rammstein derzeit Konzerte in Berlin. Doch jetzt zeigen Recherchen, dass der Fall "Rammstein" noch größer sein könnte. Es gibt Vorwürfe gegen ein weiteres Mitglied der Band.
Seit Ende Mai stehen Vorwürfe gegen Till Lindemann im Raum, den Sänger der Band Rammstein. So sollen etwa Frauen gezielt für Sex mit Lindemann rekrutiert worden sein. In einzelnen Fällen soll es zu sexuellen Übergriffen gekommen sein. Anfang Juni hatten NDR und "Süddeutsche Zeitung" erstmals darüber berichtet. Seit einigen Wochen ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Nun ist Rammstein zurück in Deutschland, am Dienstag wird die Band ihr letztes von insgesamt drei Konzerten im ausverkauften Berliner Olympiastadion spielen. Während die Musiker in den vergangenen Wochen vieles dafür getan haben, die Vorwürfe abzumoderieren, abzumahnen, klein zu reden, haben sich weitere Frauen bei NDR und SZ gemeldet. Manche der Schilderungen lassen vermuten, dass sexualisierte Grenzverletzungen mutmaßlich schon weitaus früher passiert sein könnten als bislang bekannt.
Einladung ins Landhaus
Eine mutmaßlich Betroffene ist Jasmin Stevens. Sie heißt eigentlich anders. Die Reporter trafen sie vor etwa zwei Wochen in einem Land in Südeuropa. Dort erzählte die Frau von ihren Erinnerungen - von Erfahrungen, die mehr als 20 Jahre zurück liegen sollen, von denen sie aber sagt, dass diese bis heute ihr Leben prägen.
Jasmin Stevens erzählte, sie sei gerade 17 Jahre alt geworden, da habe sie Lindemann das erste Mal persönlich getroffen, bei einer Autogrammstunde zu dessen damals erschienenem Buch "Messer", im Dezember 2002. Anschließend sei sie mit Bekannten in eine Bar im Berliner Prenzlauer Berg gegangen. Lindemann sei mit Rammstein-Keyboarder Christian Flake Lorenz dazu gekommen. Rammstein war zu der Zeit bereits berühmt, die beiden Musiker internationale Stars. Später, so erinnert es Stevens heute, habe Lindemann sie gefragt, ob sie nicht noch mit in Flakes Landhaus in Brandenburg kommen wolle, ohne ihre Bekannten.
Warum eine 17-Jährige mit zwei deutlich älteren Männern mitfahre, fragten die Reporter bei ihrem Besuch. Sie sei damals "absolut verknallt gewesen" in Till Lindemann. Außerdem habe sie sich sicher gefühlt, weil sie doch mit zwei Weltstars unterwegs gewesen sei. Sie hätte damals zunächst gesagt, sie sei 22 Jahre alt, dann aber, bei der Ankunft im Haus, habe sie ihr richtiges Alter genannt.
Dort hätten ihr Lindemann und Flake viel Bier und Schnaps gegeben und wohl auch selbst getrunken. Später habe sie das Gefühl gehabt, dass ihr Mund extrem trocken geworden sei. Die Wände, so beschreibt sie es heute, hätten gewirkt, als bewegten sie sich auf sie zu. Lindemann sei irgendwann zum Schlafen verschwunden. Sie selbst habe sich stark berauscht in einem anderen Zimmer im oberen Stockwerk ins Bett gelegt.
"Ich habe es geschehen lassen"
Flake habe sich dann neben sie gelegt. Sie sei nicht in der Verfassung gewesen, den Keyboarder davon abzuhalten. Sie habe sich lediglich wegdrehen können. Flake, so erinnert sie sich, habe sie dann zurückgedreht und mit ihr Sex gehabt. Sie habe den Sex nicht gewollt, habe aber auch nicht nein gesagt, sich nicht gewehrt und einfach so dagelegen.
"Ich habe es geschehen lassen. Ich war wie off, abgetrennt von mir selbst", sagt Stevens heute. Flake habe merken können, dass sie nicht präsent gewesen sei. "Ich war mindestens super betrunken und er wusste es, weil er die ganze Zeit dabei war. Ich war einfach nicht mehr bei Sinnen."
In mehreren langen Gesprächen mit NDR und SZ schildert Stevens, dass sie bis heute unter den für sie traumatischen Erfahrungen mit Flake leide. Sie sei auch deshalb jahrelang in Therapie gewesen.
Versicherungen an Eides statt
Jasmin Stevens hat ihre Aussage zur Vorlage bei Gericht an Eides statt versichert. Bei einer Falschaussage droht eine Gefängnisstrafe. Neben ihr haben mehrere weitere Personen an Eides statt versichert, dass Stevens von ihren Eindrücken in den Tagen, Monaten und Jahren nach dem mutmaßlichen Übergriff erzählt habe. Darunter sind Familienangehörige sowie ehemalige Arbeitskolleginnen und Freundinnen. Zudem stützen Tagebuchaufzeichnungen, fast zehn Jahre alte Unterlagen ihrer Therapeutin sowie Fotos von der Autogrammstunde die Schilderungen der Frau.
Die Unterlagen zeichnen ein konsistentes Bild ihrer Erinnerungen dieser Nacht. Es gilt die Unschuldsvermutung. Zum ganzen Bild gehört auch, dass Stevens' Faszination für Lindemann trotz des mutmaßlichen Übergriffs fortbestand. Darum habe sie sich in den Monaten danach mit dem Rammstein-Frontmann erneut getroffen und eine kurze, einvernehmliche Affäre gehabt.
Provozieren mit Grenzüberschreitungen
Flake ließ die Vorwürfe über seine Anwälte zurückweisen. Es ginge zudem um seine Intimsphäre und handele sich um unzureichend belegte Tatsachen. Rammstein-Frontmann Lindemann, gegen den die Berliner Staatsanwaltschaft derzeit wegen mutmaßlicher Sexualdelikte ermittelt, ließ konkrete Fragen inhaltlich unbeantwortet.
Die Band und manche ihrer Mitglieder provozieren schon viele Jahre mit Grenzüberschreitungen. Das ist für Fans Teil der Faszination Rammstein. Sexualität ist häufig Thema in Texten der Band, aber auch in Publikationen außerhalb der Kunst, in Interviews etwa.
In einem mit der "Märkischen Allgemeinen Zeitung" sagte Flake 2016, "betrunken waren mir die Konsequenzen, die Sex hat, egal." Und: "Alkohol ist nur in Maßen gut. Du hast keine Kontrolle." Heute, so hat Flake es immer wieder öffentlich gesagt, trinke er keinen Alkohol mehr.
Keine Anzeige erstattet
Sollte der Vorfall aus dem Jahr 2002 sich so zugetragen haben, könnte dieser auch für aktuelle Ermittlungen noch strafrechtlich relevant sein. Jasmin Steven hat bislang keine Anzeige erstattet. Damals, in einer Zeit, in der die gesellschaftliche Rolle von Frauen noch eine andere gewesen sei, wäre ihr ohnehin nicht geglaubt worden, sagt sie heute.
Die Diskussionen um Rammstein hatten Ende Mai begonnen, als die Nordirin Shelby Lynn öffentlich den Vorwurf erhob, am Rande eines Rammstein-Konzertes im litauischen Vilnius unter Drogen gesetzt worden zu sein. Dies wies die Band als unwahr zurück. Ein Ermittlungsverfahren in Litauen wurde inzwischen eingestellt. In den sozialen Medien hatten sich zahlreiche Frauen mit Lynn solidarisiert und ähnliche Erfahrungen geschildert. Gleichzeitig gab es eine massive Kampagne von Frauen, die sich hinter Rammstein stellten.
Der Text wurde aufgrund von zwei Entscheidungen des Landgerichts Hamburg, 24. Zivilkammer, vom 10. und 14. August 2023 angepasst. Die erste Entscheidung bezog sich auf die parallele Berichterstattung des Kooperationspartners "Süddeutsche Zeitung". Das Gericht untersagte der SZ auf Antrag des Rammstein-Musikers Christoph Schneider den Verdacht zu erwecken und/oder erwecken zu lassen, er habe im Februar 1996 an einer Frau, die in der Berichterstattung anonymisiert "Sybille Herder" genannt wurde, einen sexuellen Übergriff vorgenommen. Die zweite Entscheidung hat das Gericht auf Antrag von Till Lindemann getroffen. Es hat dem NDR untersagt, den Verdacht zu erwecken und/oder erwecken zu lassen, der Antragsteller habe im Februar 1996 "Sybille Herder" vergewaltigt bzw. sexuelle Handlungen an dieser Frau ohne ihre Einwilligung vorgenommen. Die Redaktion von tagesschau.de hat sich dazu entschieden, die Passagen zunächst entsprechend anzupassen. Der NDR prüft, ob er Rechtsmittel gegen diese Entscheidung einlegt.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen