Rammstein-Frontmann Neue Vorwürfe gegen Till Lindemann
Mehrere Frauen erheben neue Vorwürfe gegen Rammstein-Frontmann Lindemann. Gegenüber NDR und SZ beschreiben sie, wie junge Frauen offenbar gezielt für Sex mit ihm rekrutiert werden. Zwei Frauen berichten zudem von mutmaßlichen sexuellen Übergriffen.
Es sei ein Spätnachmittag im Februar 2020 gewesen, das Konzert habe noch nicht einmal begonnen, da habe Till Lindemann im Backstage einer Konzerthalle durch die Tür geschaut und mit dem Finger eine "Komm her"-Bewegung gemacht. Er wolle ihr etwas zeigen, habe Lindemann gesagt, so erinnert sich die damals 22-jährige Cynthia A. heute im Gespräch mit NDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ). Einen Moment später wird Cynthia A., die in Wirklichkeit anders heißt, von Till Lindemann in einen Nebenraum geführt, die beiden haben Sex.
"In dem Moment habe ich nur gedacht: Oh mein Gott, das tut weh, hoffentlich ist es bald vorbei", sagt Cynthia A.. Sie schildert, dass sie ziemlich starke Schmerzen gehabt habe und verkrampft gewesen sei. Lindemann müsse es "aufgefallen sein, dass es nicht leicht war, mit mir zu schlafen. Ich habe danach auch geblutet und es hat vielleicht zehn Minuten gedauert".
"Es war eben Till Lindemann"
Alles sei "ziemlich schnell und ziemlich gewaltvoll" gewesen. "Aber ich wollte eben auch nicht sagen, dass es wehtut, weil es war eben Till Lindemann." Cynthia A. habe nicht ausdrücklich Nein gesagt, habe zugestimmt, aber sie sei offensichtlich nicht glücklich darüber gewesen, was da passiert sei.
Damals ist Cynthia A. nicht zur Polizei gegangen, hat aber Freundinnen und Freunden davon erzählt. Mehrere von ihnen haben dies an Eides statt gegenüber NDR und SZ im Detail bestätigt. Cynthia A. sagt, sie habe sich lange selbst Vorwürfe gemacht. Heute bezeichnet Cynthia A. den Sex als Übergriff und als Machtmissbrauch.
In einem weiteren Fall berichtet die damals 21-jährige Frau Kaya R., die ebenfalls anders heißt und die hier zu ihrem Schutz einen Fantasienamen trägt, nach einer Aftershowparty Lindemanns besinnungslos auf einem Hotelbett gelegen zu haben. Wie sie in das Zimmer gelangt sei, daran könne sie sich nur noch lückenhaft erinnern.
Laut ihren Erinnerungen habe Lindemann auf ihr gelegen, als sie wieder zu sich gekommen sei und habe sie gefragt, ob er aufhören solle. "Und ich wusste nicht einmal, womit er aufhören will." Sie könne sich auch nicht daran erinnern, was sie auf Lindemanns Frage geantwortet habe. Lindemann sei dann irgendwann gegangen. Mitglieder seines Teams hätten ihr später Drogen angeboten. Das habe sie abgelehnt.
Am nächsten Morgen, sagt Kaya R., sei sie in einem anderen Zimmer aufgewacht. Wie sie dorthin gekommen sei, daran könne sie sich nicht erinnern. Als sie darum bat, mit Till Lindemann reden zu können, sei sie gefragt worden, warum sie mit ihm sprechen wolle: Weil sie nicht sicher sei, dass er ein Kondom verwendet habe?
Chat-Protokolle untermauern Vorwürfe
Die beiden Frauen äußern sich anonym vor der Kamera und haben ihre Aussagen an Eides statt versichert. Den Reporterinnen und Reportern liegen zudem weitere Aussagen von Zeuginnen an Eides statt sowie zahlreiche Chat-Protokolle vor, die Teile der Vorwürfe unterstreichen. Fragen von NDR und SZ zu konkreten Vorwürfen ließen sowohl Lindemann als auch die Band inhaltlich unbeantwortet.
Offenbar systematische Anbahnungen
Die Recherchen von NDR und SZ beschreiben erstmals ausführlich ein System der Anbahnung: Mehr als ein Dutzend Frauen berichtet in Gesprächen mit den Reporterinnen und Reportern davon, wie sie von mehreren Menschen aus dem Umfeld von Lindemann gezielt angesprochen worden seien, häufig über Instagram oder auf den Konzerten selbst, um zu speziell für Lindemann organisierten Aftershowpartys zu kommen. So sei es in verschiedenen Städten in ganz Europa geschehen, immer mit ganz ähnlichem Ablauf.
Die Frauen hätten im Vorfeld Fotos von sich schicken sollen, oder es seien vor Ort Fotos und Videos gemacht worden. Die Frauen wurden zuvor gebeten, sich attraktiv zu kleiden, sich auf eine bestimmte Art und Weise zurecht zu machen.
Eine Frau berichtet, dass ihr klar kommuniziert worden sei, dass es den Zugang zu Konzert und Aftershow-Party nur bei Interesse an Geschlechtsverkehr mit Lindemann gebe - und dass der inzwischen 60-jährige Lindemann nur sehr junge Frauen dabeihaben wolle. Teilweise seien die Frauen nicht nach ihrem Alter gefragt worden, obwohl ihnen auf den Partys kostenlos Alkohol und illegale Drogen angeboten worden seien.
Mehrere dieser Frauen haben ihre Erzählungen an Eides statt versichert. Zudem belegen zahlreiche Screenshots von WhatsApp- und Instagram-Chats sowie Fotos die Aussagen der Frauen. Auf konkrete Fragen von NDR und SZ äußerten sich weder Lindemann oder das Management von Rammstein inhaltlich zu den Vorwürfen. Menschen, die die Kontakte mit den Frauen angebahnt hatten, reagierten auf Anfrage nicht.
Band weist Vorwürfe zurück
Vor wenigen Tagen hatte die Irin Shelby Lynn den Vorwurf erhoben, am Rande eines Rammstein-Konzertes unter Drogen gesetzt worden zu sein. Dies wies die Band bislang als unwahr zurück. In den sozialen Medien hatten sich danach zahlreiche Frauen mit Lynn solidarisiert. Gleichzeitig gab es eine massive Kampagne von Frauen, die sich hinter Rammstein stellten - mit Hunderten Videos und Beiträgen auf Twitter, Instagram und YouTube.
NDR und SZ liegt ein Screenshot einer WhatsApp-Gruppe vor, der zeigt, dass eine Frau aus dem Umfeld Lindemanns diese Kampagne angeheizt und den Frauen entsprechende Formulierungen und Hashtags nahegelegt hat. Auch wegen dieser Kampagne haben sich die Frauen, mit denen NDR und SZ gesprochen haben, dafür entschieden, anonym zu bleiben.
Gedicht über Sex mit besinnungsloser Frau
Beide Frauen, sowohl Cynthia A. als auch Kaya R., sind nach ihren Erlebnissen mit Till Lindemann noch einmal auf ein Konzert von ihm gegangen und auch noch einmal auf eine Aftershowparty. Erst später hätten sie realisiert, wie problematisch Lindemanns Umgang mit ihnen gewesen sei.
"Das war ein Schutzmechanismus, weil ich Spaß haben wollte, und ich habe mich deshalb selbst angelogen", sagt Kaya R.. Erst später, nachdem sie ein Gedicht Lindemanns über Sex mit einer besinnungslosen Frau gelesen habe, habe sie sich "getriggert" gefühlt und sei danach nie wieder zu Konzerten Lindemanns gegangen.
Cynthia A. sagt, sie habe lange gebraucht, um die Erfahrung zu verarbeiten. Sie habe sich als Mensch sehr verändert, habe angefangen Alkohol zu trinken und Drogen zu nehmen. Auch ihre Essstörung sei schlimmer geworden. Irgendwann habe sie nicht nur, aber auch wegen des Vorfalls eine Therapie gemacht. "Das war richtig schwer, mich von dieser ganzen Geschichte abzugrenzen."
Anm. d. Red.: In einer früheren Version hieß es, das erwähnte Konzert habe im Frühjahr 2020 stattgefunden. Wir haben es konkretisiert: Das Konzert fand im Februar 2020 statt.
Der Text wurde aufgrund einer Entscheidung des Landgerichts Hamburg, 24. Zivilkammer, vom 10. August 2023 leicht angepasst. Das Gericht untersagte auf Antrag des Rammstein-Musikers Till Lindemann, von sexuellen Handlungen zu schreiben, denen die Frauen nicht zugestimmt hätten. Die Redaktion von tagesschau.de hat sich dazu entschieden, die Passagen zunächst entsprechend anzupassen. Der NDR prüft Rechtsmittel.
Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen