Neue Spionageschiffe Teurer Auftrag trotz "erheblicher Bedenken"
Trotz Warnungen des Bundesrechnungshofes hat der Bund nach Recherchen von WDR, NDR und SZ einen Zwei-Milliarden-Auftrag ohne detaillierte Leistungsbeschreibung vergeben. Nun droht eine Kostenexplosion. Nutznießer ist einmal mehr eine Bremer Werft.
Im Sommer 2021 sollte alles ganz schnell gehen. Die letzte Sitzung im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages vor der Bundestagswahl stand bevor. Es war für die Regierungsparteien die vorerst letzte Möglichkeit, Investitionsvorhaben von mehr als 25 Millionen Euro vom Haushaltsausschuss bewilligt zu bekommen. Auf dem Prüfstand stand am 16. Juni eine Milliardeninvestition: Kriegsschiffe, die mit modernster Spionagetechnik, Abhöranlagen, Radaren und weiteren Sensoren ausgestattet sein und ab 2026 bis 2028 in See stechen sollen.
In einem "Berichterstattergespräch" gaben die Experten des Bundesrechnungshofes ihre Einschätzung zu dem geplanten Deal ab. Die unabhängigen Prüfer kontrollieren bei derartigen Milliardenaufträgen des Bundes regelmäßig auf Wirtschaftlichkeit und Rechtmäßigkeit. Auf der anderen Seite saßen die Berichterstatter der Bundestagsfraktionen. Jede Partei darf einen Abgeordneten aus dem Haushaltsausschuss entsenden. Schließlich sind es die Abgeordneten des Haushaltsausschusses, die den Auftrag freigeben oder stoppen können. Auch hochrangige Vertreter aus dem Verteidigungsministerium waren zugegen: Staatssekretär Benedikt Zimmer, der Abteilungsleiter Ausrüstung Carsten Stawitzki sowie der damalige Parlamentarische Staatssekretär Thomas Silberhorn.
"Mittelfristig zusätzliche Ausgaben" befürchtet
Doch was die Rechnungsprüfer an jenem Tag in dem geheimen Gespräch zu Protokoll gaben, dürfte den Herren aus dem Ministerium kaum gefallen haben. Nach Recherchen von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) erhoben die Kontrolleure beim Blick auf den Zwei-Milliarden-Vertrag "erhebliche Bedenken". Die vorliegende Vertragskonstruktion mit der Bremer Werft "Naval-Vessels-Lürssen" (NVL) sei so aufgesetzt, dass erst nach Vertragsschluss eine "Bauspezifikation" erarbeitet werden solle. Mit anderen Worten: Erst nachdem der Auftrag schon erteilt war, wollte der Bund gemeinsam mit der Werft erarbeiten, wie genau die Schiffe gebaut werden sollen. Eine Milliardenvergabe im Blindflug. Der Bundesrechnungshof befürchtete "mittelfristig zusätzliche Ausgaben".
Am 23. Juni 2021, als in einer letzten Haushaltssitzung kurz vor der Bundestagswahl eilig noch etliche Millionen- und Milliardenprojekte durchgewunken wurden, gaben die Parlamentarier auch den Auftrag für die Spionageschiffe trotz der Bedenken der Rechnungsprüfer frei.
Ein Kenner von zahlreichen Marineaufträgen, der anonym bleiben möchte, sagt: "Das ist der schlechteste Vertrag, den ich jemals gesehen habe. So etwas hätte Lürssen sich noch vor ein, zwei Jahren nicht einmal selbst geschrieben, weil es zu unverschämt wäre." Der SPD-Haushaltspolitiker Andreas Schwarz fürchtet eine Kostenexplosion. "Es kommen klare Signale aus dem Verteidigungsministerium, dass die kalkulierten Festpreise, entgegen den Erklärungen der Vergangenheit, nicht auskömmlich sind und ein finanzieller Nachschlag in einem bestimmt dreistelligen Millionenbereich benötigt wird." Gesine Lötzsch, Haushaltspolitikerin der Linken, kritisiert, der Bund habe die "Katze im Sack" gekauft.
Nach Informationen von WDR, NDR und SZ hat der Bund inzwischen Professor Stefan Krüger von der TU Hamburg beauftragt, eine Spezifikation mit auszuarbeiten. Ob das nun konkret geplante Schiff im Kostenplan bleibt, erscheint mindestens fragwürdig. Krüger wollte sich auf Anfrage nicht äußern. SPD-Haushaltspolitiker Schwarz fordert Aufklärung. Inwieweit drohende Mehrkosten der aktuellen Preisentwicklung am Markt, vertraglichen Mängeln oder aber dem fehlenden Wettbewerb geschuldet sei, müsse dem Parlament nachgewiesen werden.
Ein "innovativer Ansatz"?
Der Bundesrechnungshof wollte die Recherchen auf Anfrage nicht kommentieren. Die Prüfung sei als "Verschlusssache" eingestuft und müsse geheim gehalten werden. Ein Sprecher erklärte: "Wir erwarten grundsätzlich für Rüstungsvorhaben der Bundeswehr, dass vor der Unterzeichnung des Vertrages eine hinreichend detaillierte Leistungsbeschreibung vorliegt." Das Verteidigungsministerium rechtfertigte die Vorgehensweise als einen "innovativen Ansatz". Der Bund erarbeite gemeinsam mit dem Auftragnehmer die Bauspezifikation. "Damit soll in diesem Beschaffungsprozess sowohl die Qualität der Bauspezifikation als auch die Erstellungsdauer deutlich verbessert werden." Man sei nach wie vor "von diesem zielführenden Ansatz überzeugt."
Es ist nicht das erste Rüstungsvorhaben der Marine, das die Steuerzahler teuer zu stehen kommen könnte. WDR, NDR und SZ berichteten im Frühjahr 2022 über den Auftrag für den Bau zweier Tankschiffe. Damals hatte der Bund Warnungen des Bundesrechnungshofes und der Experten im zuständigen Bundesamt für Beschaffung in den Wind geschlagen und den Auftrag trotz der Bedenken vergeben. Auch damals ging der Auftrag an die Lürssen-Werft, deren militärische Sparte inzwischen unter NVL firmiert.
Bei den Spionageschiffen kritisierten die Rechnungshofprüfer nach Recherchen von WDR, NDR und SZ indes einen weiteren Umstand: den fehlenden Wettbewerb bei der Vergabe. Zwar sei es angesichts der sensiblen Spionagetechnik vertretbar gewesen, den Auftrag nicht europaweit auszuschreiben. Jedoch hätte der Bund den Auftrag nach Ansicht der Prüfer zumindest national ausschreiben können.
Stattdessen hatte das zuständige Bundesamt für Beschaffung einen Tag vor Heiligabend 2020 vier ausgewählte deutsche Werften angeschrieben. Interessierte Werften sollten unter anderem einen Nachweis mitschicken, dass sie Unternehmen an der Hand haben, die die nötige Spionagetechnik bauen können. Sie sollten außerdem schriftlich versichern, dass "keine Vereinbarungen mit anderen Unternehmen getroffen worden sind, die eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs … bewirken".
Lürssen einen Schritt voraus
Doch von der Konkurrenz zunächst unbemerkt, verschaffte sich die Bremer Lürssen-Werft frühzeitig einen Vorteil. Noch am gleichen Tag, an dem die vier Schiffbauer angeschrieben wurden, schloss die Werft nach Informationen von WDR, NDR und SZ einen Vertrag, in dem sie sich exklusiv die Zusammenarbeit mit dem Hamburger Sensorik-Hersteller Plath sicherte. Am 5. Januar 2021 folgte dann ein weiterer Exklusivdeal zwischen Lürssen und dem Münchner Unternehmen Rohde & Schwarz. So geht es aus einem Urteil des Landgerichts Bremen hervor, das später den Sachverhalt prüfte.
Das Problem: Mit den Exklusivverträgen hatte die Lürssen-Werft zwei zentrale Sensorik-Anbieter exklusiv an sich gebunden, die bei der Vergabe in Frage kamen. Mindestens zwei Werften fühlten sich aus dem Spiel genommen. Genau solche Absprachen wollte der Bund eigentlich ausschließen.
Am 21. Januar 2021 beschwerte sich Lürssen-Konkurrent ThyssenKrupp Marine Systems beim Bundesamt für Beschaffung. Die Ausschreibung des Bundes stelle einen möglichen Verstoß gegen das Vergaberecht dar. Vergeblich. Ins Leere lief auch eine Klage der Flensburger Schiffbau-Gesellschaft (FSG). Die Werft hatte in den 1980er-Jahren die derzeit im Dienst befindlichen Flottendienstboote gebaut und wollte sich nun abermals um den Auftrag bemühen. Die beteiligten Unternehmen wollten sich auf Anfrage zu den Vorgängen nicht äußern. Das Bundesamt für Beschaffung äußerte sich zu vertraglichen Details aufgrund von Geheimhaltungspflichten nicht.
Am Ende blieb nur ein potentieller Anbieter übrig: die Bremer Lürssen-Werft. Der Bundesrechnungshof kritisierte das Vorgehen nach Informationen von WDR, NDR und SZ deutlich: "So hat die Bundeswehr aus ihrer Sicht entschieden, welche Unternehmen für das Vorhaben überhaupt in Frage kommen, mit dem Ergebnis, dass kein Wettbewerb stattfand."
Ministerium verteidigt Entscheidung
Das Ministerium verteidigt sich auf Anfrage. Man habe sich aufgrund der besonderen Geheimhaltungsbedürftigkeit des Vorhabens für das Verfahren entschieden, "da in einem extrem hohen Maße deutsche Sicherheitsinteressen und Schlüsseltechnologien betroffen sind." Aufgrund einer Markterkundung seien nach fachlicher Bewertung nur vier Firmen in Betracht gekommen.
Militärexperte Carlo Masala hat kein Verständnis für solche Vergabeprozesse. "Die Verantwortlichen handeln noch immer so, als lebten wir in Friedenszeiten. Da kümmerte es kaum jemanden, wenn ein Schiff oder ein Flugzeug oder ein Panzer vier Jahre später kam und 40 Prozent mehr kostete. Doch angesichts des Krieges in Europa sind diese Zeiten vorbei."