Tankschiffe für die Marine Das 250-Millionen-Euro-Geschenk
Das Verteidigungsministerium hat für zwei neue Tanker offenbar deutlich überhöhte Preise akzeptiert. Dabei hatten der Bundesrechnungshof und die Bundeswehr nach Recherchen von NDR, WDR und SZ vor dem Kauf gewarnt.
27. Februar im Bundestag: Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine eine Zeitenwende in der deutschen Außenpolitik. Der Bund werde ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro bilden und künftig Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Verteidigung investieren.
Der Kanzler erntete nicht nur von den Parlamentariern im Bundestag Applaus. Aus der ganzen Welt kamen Glückwünsche. Doch auch der Hall des Jubels kann nicht alle Fragen übertönen. Etwa die, warum die Bundeswehr eigentlich in einem derart desolaten Zustand ist. Wie kann es sein, dass angesichts von Milliardensummen im Wehretat Flugzeuge nicht fliegen, Schiffe in den Häfen ankern, Soldaten mit ungenauen Gewehren schießen?
Recherchen von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" (SZ) geben Einblicke in ein Rüstungsgeschäft, das für vieles steht, was in den vergangenen Jahren schiefgelaufen ist. Bei dem Projekt geht es um den Kauf zweier Tankschiffe für die Deutsche Marine. 570 Millionen Euro waren ursprünglich eingeplant, fast 915 Millionen Euro werden sie wohl den deutschen Steuerzahler kosten.
"Exorbitant hoher" Preis
Die Geschichte des Millionen-Fiaskos beginnt mit einer Ausmusterung. Die beiden veralteten Tanker "Spessart" und "Rhön" müssen ersetzt werden. Die Tankschiffe werden dringend für die Aufgaben der Marine innerhalb der NATO gebraucht. Doch in vielen Ländern dürfen sie nicht mehr einfahren. Denn sie haben nur eine Hülle. Bei einer Havarie besteht die Gefahr einer Umweltkatastrophe. Deshalb sind seit 2005 vielerorts zwei Wände vorgeschrieben.
Den Zuschlag für den Bau von zwei neuen Tankern erhielt im Juli 2021 die Rüstungstochter der Bremer Lürssen-Werft, Naval Vessels Lürssen (NVL). Sie war als einzige im Bieterverfahren übriggeblieben. Bereits zu diesem Zeitpunkt war klar, dass der von NVL geforderte Preis massiv über den Kostenvorstellungen der Bundeswehr lag.
Um die Kosten zu drücken, akzeptierte die Bundeswehr eine schlechtere technische Ausstattung der Schiffe. So wurde unter anderem auf eine zweite Antriebswelle verzichtet und das Fassungsvermögen der Tanker reduziert. Vertrauliche Unterlagen der Bundeswehr zeigen, dass Lürssen trotz der erheblichen Einschnitte in der Leistungsfähigkeit der Schiffe den Angebotspreis offenbar nicht wesentlich reduzierte. Die Werft forderte von der Deutschen Marine 870 Millionen Euro für beide Schiffe - ein Preis, der bundeswehrintern bereits zu diesem Zeitpunkt als "exorbitant hoch" eingeschätzt wird.
"Erhebliche Zweifel"
Die frühe Einschätzung der Bundeswehr ist nicht das einzige überhörte Warnsignal. Auch der Bundesrechnungshof meldete "erhebliche Zweifel an der Wirtschaftlichkeit" des Projekts an. So steht es in einem vertraulichen Bericht an den Haushaltsausschuss des Bundestages vom Juni 2021, der NDR, WDR und SZ vorliegt.
Den Prüfern ging es dabei nicht allein um den hohen Preis und die Tatsache, dass der Auftrag nur in Deutschland und nicht europaweit ausgeschrieben wurde. Sie monierten auch, dass das Projekt für den Bund erhebliche Risiken berge. Denn ohne ersichtlichen Grund habe sich das Bundesverteidigungsministerium (BMVg) darauf eingelassen, die Verjährungsfrist für etwaige Mängel an den Schiffen von zwei Jahren auf ein Jahr zu verkürzen, zudem sei eine ursprünglich vorgesehene "unbegrenzte Haftung" für Lürssen auf fünf Prozent des Auftragswertes begrenzt worden, steht in dem Papier. Sollte auf eine sofortige Beschaffung der beiden Schiffe verzichtet werden können, solle das Beschaffungsverfahren "unverzüglich" neu begonnen werden, heißt es weiter.
"Nicht wirtschaftlich"
Doch trotz der Bedenken bewilligte der Haushaltsausschuss im Bundestag das teure Projekt in seiner letzten Sitzung vor der Bundestagswahl. Die Parlamentarier forderten jedoch eine Preisprüfung. Zuständig sind dafür Experten des Beschaffungsamtes der Bundeswehr (BAAINBw). Vertrauliche Unterlagen zeigen, dass sie bereits im Vorfeld im eigenen Haus davor gewarnt hatten, dass der Tankerkauf "nicht wirtschaftlich" sei. Offenbar hatte die Hausleitung diese Einschätzung aber schlichtweg übergangen.
Im Rahmen der nun geforderten Preisprüfung gingen die Experten des Beschaffungsamtes im Winter 2021 ins Detail. Ihr Urteil fiel deutlich aus. In einem Lagebericht vom November 2021 bemängelten sie die Forderungen von Lürssen als "deutlich überzogen". So habe das Unternehmen allein für den Bau von sogenannten Waffenfundamenten - also für Metallvorrichtungen, auf denen Maschinengewehre installiert werden können - 1.200 Arbeitsstunden veranschlagt. Das entspricht etwa neun Monaten durchgehender Arbeit für einen Konstrukteur. Grundsätzlich habe die Werft "immens hohe Stundensätze" verplant. Zudem könne nicht ausgeschlossen werden, dass "Leistungen doppelt verbucht wurden", insgesamt sei die "Liste an überzogenen Forderungen (…) beliebig lang".
Der Bericht mündet in einer klaren Forderung: Das Beschaffungsamt solle die Prüfung abbrechen und das Verteidigungsministerium informieren. In einem weiteren Schreiben an den "Abteilungsleiter See" und die Vize-Präsidentin im BAAINBw empfahlen die Prüfer schließlich "den Vertragsabschluss (…) als gescheitert zu erklären und das Projekt im Vergabeverfahren europaweit neu auszuschreiben". Als realistischen Preis für die beiden Tankschiffe nannten sie "ca. 620,- Mio €", also 250 Millionen Euro weniger, als von Lürssen gefordert.
Leitung hält am Projekt fest
Doch offenbar hielt die Leitung des Beschaffungsamtes an dem Projekt fest. In einem auf den 9. Dezember 2021 datierten Schreiben an das Verteidigungsministerium teilte das Beschaffungsamt - entgegen der Einschätzung der eigenen Experten - mit, man schlage vor, den Preis von 870 Millionen Euro zu akzeptieren, auch weil eine Verzögerung des Vorgangs negative "Auswirkungen auf die Einsatzbereitschaft der Marine" haben könnte. Zudem sei unklar, "ob die Haushaltsmittel für eine Neuausschreibung in 2022 überhaupt weiter bereitgestellt werden können". Über die Vorbehalte der eigenen Fachabteilung informierte das Beschaffungsamt das Ministerium in dem Schreiben nicht.
Offenbar kennt selbst der Haushaltsausschuss des Bundestags die Ergebnisse der erneuten Prüfung bis heute nicht. Dabei müssen die Abgeordneten alle Verteidigungsausgaben bewilligen, die mehr als 25 Millionen Euro kosten.
Auf Anfrage erklärte Lürssen, dass man ein marktübliches Angebot vorgelegt habe, im Übrigen seien die "behaupteten angeblichen 'Bemängelungen' seitens der Preisprüfer des BAAINBw" bei Lürssen nicht bekannt. Man habe den Prüfern die eigene Kalkulation detailreich dargelegt und umfangreich begründet und erläutert. Weiter teilt das Unternehmen mit, dass die von NDR, WDR und SZ gestellte Anfrage teilweise auf "erkennbar falschen Grundannahmen" basiere. Welche konkreten Annahmen dies sein sollen, teilte das Unternehmen nicht mit.
Milliarden könnten "verdampfen"
Eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums unterstrich in einer schriftlichen Antwort die Wichtigkeit des Projekts: "Mit Blick auf die Bedeutung der Betriebsstoffversorgung für die Sicherstellung der Durchhaltefähigkeit von Schiffen" sei eine weitere Verzögerung der Beschaffung "in keinem Fall akzeptabel". Zu konkreten Vertragsdetails und zur Kritik der Prüfer und des Rechnungshofes äußerte sich das Ministerium unter Verweis auf die Vertraulichkeit des Vorgangs nicht.
Der Bundestagsabgeordnete Sebastian Schäfer, der für die Grünen im Bundestag sitzt, nennt die Rechercheergebnisse "erschreckend". Der Fall bilde "sehr viele der Probleme ab, die wir offenkundig im Beschaffungswesen haben und die wir ganz dringend abstellen müssen", sagte Schäfer. Gerade vor der Zusage von Scholz sei es wichtig, den Fall jetzt gründlich aufzuklären.
Kritik kommt dabei auch von Fregattenkapitän Marco Thiele vom Bundeswehrverband. Sollten die bestehenden Prozesse und Strukturen in Vergabeverfahren nicht angepasst werden, drohten die 100 Milliarden Sonderinvestitionen zu verdampfen.