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Medizinische Forschung Unis verheimlichen Studienergebnisse

Stand: 30.12.2019 06:48 Uhr

Bei 93 Prozent aller medizinischen Studien an deutschen Unis werden die Ergebnisse nicht vorschriftsgemäß veröffentlicht. Das geht aus einer neuen Untersuchung hervor, die NDR, WDR und SZ vorliegt.

Von Markus Grill, NDR/WDR

Im Februar 2016 beendete die Berliner Charité eine Studie mit einem Medikament bei Patienten mit Multipler Sklerose. Im Dezember 2017 beendete die TU München eine Studie mit Insulin bei kleinen Kindern mit Diabetes. Und im März 2018 beendete die Medizinische Hochschule Hannover eine Studie mit einem neuen Medikament bei Krebspatienten, die nicht mehr operiert werden können.

Alle diese Studien haben eines gemeinsam: Ihre Ergebnisse wurden auch mehr als ein Jahr nach Abschluss der Tests nicht in der EU-Datenbank über Medizinstudien veröffentlicht. Das heißt: Ärzte weltweit, die nach solchen Informationen suchen, können sie nicht finden und deshalb ihre Patienten nicht nach dem neuesten medizinischen Wissen behandeln.

445 Studien nicht veröffentlicht

Die oben genannten Studien sind nur drei von insgesamt 445 Studien, deren Ergebnisse auch mehr als ein Jahr nach Studienende nicht in der EU-Datenbank veröffentlicht wurden. Das hat die britische Organisation Transparimed gemeinsam mit der deutschen BUKO Pharmakampagne herausgefunden. Sie haben dafür alle Studien ausgewertet, die seit 2004 von deutschen Universitäten bei der EU angemeldet wurden.

Die Ergebnisse ihrer Untersuchung wollen die beiden Organisationen heute veröffentlichen. NDR, WDR und "Süddeutsche Zeitung" konnten den Bericht vorab einsehen und konfrontierten betroffene Unis, Behörden und Wissenschaftler mit den Ergebnissen.

Demnach haben die 35 deutschen medizinischen Hochschulen nur sieben Prozent der Studienergebnisse in der EU-Datenbank EudraCT veröffentlicht. Das ist weit weniger als in anderen Ländern. Universitäten in Europa haben im Schnitt 63 Prozent der Studienergebnisse in der EU-Datenbank veröffentlicht, in den USA 69 Prozent.

Positive Ausnahmen

Eine positive Ausnahme bildet das Universitätsklinikum Münster: In der EU-Datenbank finden sich die Ergebnisse von 61 Prozent seiner Studien. Regensburg, Würzburg, Leipzig und Düsseldorf kommen immerhin auf 20 bis 30 Prozent. Doch 17 deutsche Universitäten teilen gar keine Ergebnisse ihrer Studien im europäischen Register.

Das Klinikum der Universität München schuldet der Öffentlichkeit Daten zu 29 Studien, die TU München zu 27 und die Medizinische Hochschule Hannover zu 26. Manche dieser Studien sind seit vielen Jahren beendet. Es geht dabei um Depressionen, Krebs, Parkinson und andere schwere Krankheiten.

Die meisten nicht-veröffentlichten Studienergebnisse in Deutschland leistet sich die Berliner Charité. Hier haben die Autoren der Untersuchung 68 Studien entdeckt, deren Ergebnisse auch ein Jahr nach Abschluss nicht in der EU-Datenbank veröffentlicht wurden.

Auf Anfrage verweist die Charité zwar auf das "berechtigte Interesse an einer zeitnahen Veröffentlichung der Resultate". Warum man aber nicht der Verpflichtung nachkomme, beantwortet die Sprecherin nicht konkret. Man strukturiere derzeit "alle Aktivitäten zu klinischen Studien" um, außerdem seien die angemahnten Studien "bereits auf internationalen Kongressen vorgestellt worden", heißt es.

Keine Verpflichtung?

Die Universität Freiburg, die der Untersuchung zufolge die Ergebnisse von 14 Studien nicht veröffentlicht hat, teilt auf Anfrage mit, dass die Veröffentlichung in der EU-Datenbank "sehr aufwändig" sei, weil "die Einzelergebnisse eingegeben werden müssen", außerdem gebe es "keine gesetzliche Verpflichtung" zur Veröffentlichung in der EU-Datenbank.

Das sieht das zuständige Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) jedoch anders. Es betont auf Anfrage, dass "alle relevanten ergebnisbezogenen Informationen […] in der EU-Datenbank […] öffentlich zugänglich sein müssen".

Erst im Juni habe das Institut gemeinsam mit den Behörden anderer Länder, der Europäischen Zulassungsbehörde (EMA) und der EU-Kommission die Leiter von klinischen Studien auf die nötige Veröffentlichung in der EU-Datenbank hingewiesen. Bereits im Jahr 2014 hatte die EMA betont, dass es verpflichtend sei, die Ergebnisse von klinischen Studien dort zu veröffentlichen.

Trotzdem reden sich auf Anfrage zahlreiche deutsche Universitäten damit heraus, die Veröffentlichung sei nicht verbindlich. Außerdem verweisen viele Unis darauf, sie würden die Ergebnisse in der deutschen Datenbank pharmnet.bund hochladen. Doch diese nimmt international kaum ein Forscher zur Kenntnis.

"Verzerrtes Wissen"

Jörg Schaaber von der Buko Pharmakampagne weist darauf hin, dass klinische Studien dazu dienen, die bestmöglichen Therapien zu finden. "Umso enttäuschender ist es, dass die meisten deutschen Universitäten es nicht schaffen, ihre Forschungsergebnisse in das EU-Register einzutragen." So werde das Wissen über Medikamente verzerrt.

"Das Ausmaß, in dem deutsche Universitäten ihre Ergebnisse nicht berichten, ist schockierend", meint Till Bruckner von Transparimed. Unveröffentlichte Studien schadeten nicht nur den Patienten, zugleich würden öffentliche Gelder verschwendet und das Vertrauen von Studienteilnehmern missbraucht.

In Großbritannien veröffentlichen die Unis mittlerweile 72 Prozent der Studienergebnisse binnen eines Jahres in der EU-Datenbank. Allerdings, sagt Bruckner, habe sich auch dort ein erheblicher Veröffentlichungswandel erst durchgesetzt, nachdem Medien kritisch berichtet hatten.

Konsequenzen gefordert

Der Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Jürgen Windeler, kritisierte, es würden nicht nur der Fachwelt Erkenntnisse vorenthalten, sondern auch Patienten. Das habe "unmittelbar eine praktische Relevanz".

Manchmal komme in Studien zum Beispiel heraus, dass ein Medikament nicht so gut wirkt, wie man zuvor gedacht habe, oder es habe mehr Nebenwirkungen, als man angenommen habe. "Alle diese Informationen sind für die Fachwelt von großer Bedeutung."

Arznei-Prüfer Windeler fordert Konsequenzen: Die öffentliche Förderung sollte davon abhängig gemacht werden, ob vorher durchgeführte Projekte in der vorgeschriebenen Weise veröffentlicht worden sind. "Und wenn sie das nicht sind, dann muss eben die Förderung solange ausgesetzt werden, bis die Ergebnisse da stehen, wo sie stehen sollten."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 30. Dezember 2019 um 06:15 Uhr.