Interne Chats Im Maschinenraum der AfD
Mehr als 40.000 interne Chat-Nachrichten von AfD-Abgeordneten, die NDR und WDR exklusiv vorliegen, enthüllen ein desolates Selbstbild und radikales Gedankengut der AfD-Bundestagsfraktion.
Sie erlaubt den bisher tiefsten Einblick ins Innere der ersten rechtspopulistischen und in Teilen rechtsextremen Fraktion, die es seit den 1960er-Jahren wieder in den Bundestag geschafft hat: Die sogenannte "Quasselgruppe", wie sie sich selbst nennen - eine streng vertrauliche interne Chatgruppe der ersten AfD-Bundestagsfraktion. Mindestens 76 der 92 AfD-Abgeordneten schrieben bis nach der Bundestagswahl 2021 regelmäßig darin. Die mehr als 40.000 Posts wurden NDR und WDR zugespielt.
Die Chats erlauben einen exklusiven Blick in den Maschinenraum des Rechtspopulismus. Viele Abgeordnete schrieben fast täglich in dem Chat. Ihre Äußerungen geben Aufschluss darüber, was hinter den Kulissen der ersten Fraktion der AfD im Bundestag wirklich geschah und zeigen, wie Teile der Partei denken und reden, wenn sie glauben, dass ihnen keiner zuhört. Die Chats zeigen, mit welcher Hybris die Fraktion gestartet ist: "Wir sind die letzte Chance die dieses Land hat, und das meine ich bitter ernst!!!" (27.7.2019).
Umsturzrhetorik
Die vertraulichen Posts enthalten auch zahlreiche radikale, rassistische und beleidigende Äußerungen: "Die Ratte Merkel an der Spitze! Diese Volksverräterin gehört lebenslang in den Knast!" (10.7.2019). Auch deutliche Umsturzrhetorik findet sich in der Gruppe: "Wir müssen wohl warten, bis das Alte Regime wirtschaftlich ans Ende kommt und der Funke aus Österreich, Italien, Frankreich usw. überspringt. Das wird kommen und für die dann ebenfalls kommenden gnadenlosen Kämpfe müssen wir uns rüsten. (...)" (16.6.2019).
Auf Nachfrage sagt Weidel im Interview mit WDR und NDR, dass solche Äußerungen für sie inakzeptabel seien. Hätte sie davon Kenntnis gehabt, wäre sie dagegen vorgegangen.
Richtungskämpfe
Auch die jahrelangen parteiinternen Lagerkämpfe zwischen dem rechtsextremen Flügel und den Gemäßigteren ziehen sich durch die Chatgruppe. Ein Abgeordneter fragte am 8.11.2019: "Wir brauchen eine Richtungsentscheidung. Wollen wir eine National-sozialistische oder eine freiheitlich-konservative Partei sein…." Und ein anderer: "Da müssen wir uns SELBST die Frage stellen, ob wir erwiesene Nazis in der Partei und dann auch noch in führenden Positionen haben wollen. Ich will das nicht. Die Ideologie und den Führerkult, die Höcke und Kalbitz vertreten, lehne ich zutiefst ab." (17.04.2020).
Der Machtkampf der beiden Lager erreichte den Höhepunkt im Frühjahr 2020. Am Tag, an dem das Bundesamt für Verfassungsschutz den damaligen "Flügel" als erwiesen extremistische Bestrebung einordnete, schrieb die dem gemäßigteren Lager zugehörige Joana Cotar: "Es wundert mich nicht, dass das jetzt so kommt. Wir haben zu spät den Stecker gezogen. (...) der Flügel hat es dem VS viel zu einfach gemacht."
Auf Nachfrage eines damals führenden Flügel-Mannes, was das heiße, ergänzte sie: "Mal die Klappe halten, wenn es angebracht ist. (...) Fällt es so schwer, mal nicht über das Dritte Reich zu reden?" Damit im Interview konfrontiert, sagt Cotar, dass sie sich von der Parteispitze "eine klare Ansage" gewünscht hätte "das geht so nicht, ihr schadet damit allen".
Andere Parteien sollten vorgeführt werden
Regelmäßig wurden Politikerinnen und Politiker anderer Parteien mit üblen Beschimpfungen bedacht. Als der bekennend homosexuelle CDU-Politiker Jens Spahn am 16.7.2019 kurzzeitig in den Medien als möglicher neuer Verteidigungsminister gehandelt wurde, hieß es: "Oh gut, wieder eine Verteidigungsministerin." Und kurz darauf: "Bei Spahn hätte die Bundeswehr wieder auf Hinterlader umgestellt... ." Der damalige Staatsminister Michael Roth, Mitglied der Bundesregierung, sei ein "ekelhafter Wicht", der SPD-Politiker Johannes Kahrs eine "radikal böse Afteröffnung".
Die Chats legen zudem offen, wie die AfD-Abgeordneten im digitalen Hinterzimmer Strategien ausheckten, um das Plenum lahm zu legen und andere Parteien vorzuführen: Mit Nachtsitzungen, mit namentlichen Abstimmungen zu Unzeiten und anderen parlamentarischen Instrumenten, die sie dazu benutzen, zu nerven. Man wolle die anderen "quälen", mit "Penetranzstrategien", schreiben sie. Die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel bestreitet ein solches planmäßiges Vorgehen auf Anfrage.
Harte Kritik an der Fraktionsführung
Zwei Jahre, nachdem die AfD mit 12,6 Prozent der Wählerstimmen in den Bundestag eingezogen war, mehrten sich in der Chatgruppe Stimmen wie diese: "Uns fliegt langsam die Partei unterm Arsch weg, die gegründet wurde, um unser Land zu schützen!" (10.07.2019). "Und dieser Chaosladen will Deutschland retten?" (3.5.2019). Ein anderer formulierte: "Was fremdschämen angeht, bin ich durch die Partei extrem belastbar geworden." (03.06.2019).
Etwa neun Monate vor der Bundestagswahl 2021 postete Parteivorstand Cotar, die damals gegen Weidel um die Spitzenkandidatur für die Wahl rang: "EINMAL in die gleiche Richtung ziehen. Das wärs. Die Wähler haben keine Ahnung, was sie erwartet, wenn sie AfD wählen… ." (05.01.2021). Ihre harte Kritik an der auch heute amtierenden Fraktionsführung unterstreicht Cotar im Interview mit NDR und WDR: "Es ist generell die fehlende Führung in der Fraktion, der Mut, auch mal durchzugreifen und sich unbeliebt zu machen."
Auch andere griffen die Fraktionsführung in der Chatgruppe heftig an: Es handele sich um einen "Schlafwagenvorstand", der nichts hinbekomme. Einer fragte: " … WO IST UNSER KONZEPT, WO IST UNSERE STRATEGIE? Wenn man solche Fragen stellt gilt man offenbar als Verräter." (22.4.2020).
Weidel gibt sich unbeeindruckt
Über Weidel schrieb ein anderer: "Frau Weidel kann offenbar Prioritäten setzen, aber nur wenn es um ihren eigenen Kopf geht." (22.04.2020). Trotz unzähliger negativer Äußerungen zogen zahlreiche Fraktionsmitglieder im Herbst 2021 wieder in die neue Bundestagsfraktion ein und wählten auch Weidel erneut als Co-Vorsitzende.
Mit dieser Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert, sagt Weidel im Interview mit WDR und NDR: "Wenn Sie in der AfD in der ersten Reihe stehen, ist das völlig normal. Das berührt mich nicht." Unzufriedene gebe es immer. "Da müssen die sich überlegen, ob sie sich vielleicht ein anderes Hobby suchen, anstatt ihre Zeit zu vergeuden, permanent in Chats reinzuschreiben. Da würde ich mir mehr Einsatz in der parlamentarischen Arbeit wünschen", so die Fraktionsvorsitzende, die selbst nicht Mitglied der Chatgruppe gewesen ist.
So konnte sie auch dieses ernüchterte Fazit mehrerer ihrer frustrierten Kollegen am 26.6.2020 nicht mitlesen: "Leute....echt....wir sollten EIN Ziel haben. Die Fraktion war mal der Leuchtturm der Partei." Ein Kollege antwortet: "Ist er immer noch, nur das Licht ist aus" und setzt einen Zwinkersmiley.