EU-Außengrenze Missachtet Griechenland Migranten-Rechte?
Vier Jahre Haft wegen illegaler Einreise - in Griechenland werden Flüchtlinge in Schnellverfahren ohne Verteidiger abgeurteilt, wie Recherchen des Magazins Monitor vor Ort ergaben. Das UNHCR kritisiert das Vorgehen deutlich.
Es ist ein Dorf ganz im Norden Griechenlands, auf der anderen Seite der Grenze ist die Türkei. In Kastanies in der Gemeinde Orestiada endet für viele der Flüchtlinge, die es in den letzten Wochen aus der Türkei nach Griechenland geschafft haben, eine dramatische Reise. Von türkischen Bussen an die griechische Grenze verfrachtet, dort mit Tränengas und Gummigeschossen von griechischen Grenzwächtern beschossen, landen immer mehr in einem geschlossenen Flüchtlingslager am Rande Europas.
Es ist in großes Areal mit vielen weißen Containern, umzäunt von Stacheldraht. Journalisten erhalten keinen Zutritt. Vor dem Tor berichtet Margaritis Petritzikis vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, dass viele Flüchtlinge in juristischen Schnellverfahren zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden: "Das ist eine neue Praxis und wir sind sehr besorgt, weil Familien getrennt werden, indem zum Beispiel ein Familienvater zu drei Jahren Haft verurteilt und in ein Gefängnis gebracht wird, während Mutter und Kinder in ein Flüchtlingslager gebracht werden", so Petritzikis.
Einsatz von Tränengas an der türkisch-griechischen Grenze
Genaue Fallzahlen dazu habe er nicht, sagt Petrizikis. Doch er schätzt, dass mittlerweile mehr als 50 Personen in solchen Schnellverfahren verurteilt worden sind - mit Haftstrafen bis zu vier Jahren allein wegen illegaler Einreise.
Das Auseinanderreißen von Familien, die hohen Haftstrafen in juristischen Schnellverfahren - für den Vertreter des UNHCR ist das eine besorgniserregende Entwicklung. "Es ist beunruhigend. Wir als UNHCR ermahnen die Mitgliedstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention, dass sie Asylsuchende und Flüchtlinge nicht wegen eines irregulären Grenzübertritts strafrechtlich verfolgen dürfen."
Angeklagtes Mädchen zwölf Jahre alt
Aber nicht nur die hohen Strafen, auch die schnellen Prozesse selbst haben mit rechtsstaatlichen Strafverfahren nach europäischen Standards wenig gemein.
In Thessaloniki berichtet Rechtsanwalt Dimitris Koros vom griechischen Flüchtlingsrat GCR, dass er erst nach den ersten Schnellverurteilungen der Flüchtlinge von diesen Vorgängen erfahren hat. Neben Haftstrafen von vier Jahren seien Geldstrafen von bis zu 10.000 Euro verhängt worden.
Jetzt versuche Koros gemeinsam mit seinen Kolleginnen, einige der Flüchtlinge aus den Gefängnissen herauszuholen. Vor Gericht hätten diese Menschen keinerlei Rechtsbeistand gehabt. So etwas habe er bisher nicht erlebt: "Es wirkt, als ob das Gericht seine Rolle jetzt darin sieht, mit die Grenzen zu schützen. Den Flüchtlingen werden ihre Rechte weder erklärt noch gewährt. Keiner von ihnen hatte während des Gerichtsverfahrens einen Anwalt. Das einzige, was ihnen begegnet: Polizei, Strafverfolger, Gefängnis." Griechenland verstoße damit massiv gegen Menschenrechte und gegen die Genfer Flüchtlingskonvention.
Sogar Minderjährige landeten mittlerweile vor Gericht, berichten griechische Anwälte. Ein angeklagtes, afghanisches Mädchen sei erst zwölf Jahre alt.
Erstaufnahmelager Fylakio in der Nähe von Orestiada (Foto von 2018)
Die griechische Regierung teilt auf Monitor-Anfrage zu den Schnellverfahren mit: Im Gegensatz zur Türkei instrumentalisiere Griechenland die Flüchtlinge und Migranten nicht. Weiter heißt es: "Wir respektieren die grundlegenden Menschenrechte und unterstützen weiterhin die Belange von Flüchtlingen."
EU unterstützt Griechenland
Für Lotte Leicht, EU-Direktorin von Human Rights Watch, ist das Verhalten der griechischen Behörden skandalös: "Diese Kriminalisierung von Menschen, die das Recht haben einen Asylantrag zu stellen, verstört mich zutiefst". Nur weil einige Tausend Menschen versuchten, einen Asylantrag zu stellen, könne man nicht einfach internationales Recht brechen. "Es ist einfach erschütternd, inakzeptabel und es muss sich dringend ändern", so Leicht im Interview mit Monitor.
EU-Kommission und Bundesregierung befürworten dennoch den griechischen Kurs. Frontex und die Bundespolizei sollen nun verstärkt die griechische Grenzpolizei unterstützen. Doch mit den Internierungen, der Aussetzung des Asylrechts und den Schnellverfahren missachte Griechenland systematisch Menschenrechte und verstoße gegen EU-Recht, kritisiert Jürgen Bast, Professor für Europarecht an der Universität Gießen: "Die Europäische Kommission stellt sich hinter Griechenland, zeigt Solidarität und nimmt sehenden Auges in Kauf, dass das EU-Recht hier nicht beachtet wird." Doch das stehe im Widerspruch zur eigentlichen Aufgabe der EU-Kommission, nämlich Hüterin der Verträge zu sein. "Das heißt, dafür zu sorgen, dass das EU-Recht, hier das europäische Asylrecht, angewendet wird", so Bast.
Doch danach sieht es im Moment nicht aus. In Orestiada unmittelbar an der EU-Außengrenze werden elementare Regeln des Rechtsstaats auch weiterhin außer Kraft gesetzt: Die Schnellverfahren werden fortgesetzt.