"Pizzabombing" Cybermobbing über Lieferando
Eine Gruppe Cyberkrimineller belästigt ihre Opfer seit Jahren mit massenhaften Pizzabestellungen. Dafür nutzt sie nach Recherchen von Kontraste und Spiegel offenbar eine eigene Computeranwendung.
Anne und Philipp Kotz streamen gerade live auf der Video-Plattform Twitch, als es an der Tür klingelt - wieder und wieder. Am Abend des 29. April 2023 geben Unbekannte innerhalb von drei Minuten Dutzende Essensbestellungen auf ihren Namen auf. Mehrere Lieferanten hätten vor ihrer Tür gestanden, erzählen sie. "Als wir nicht mehr öffneten, klingelten diese Nachbarn heraus und schlugen gegen unsere Wohnungstür", schreibt Philipp Kotz später in einem Beschwerdebrief an Deutschlands größten Lieferdienst Lieferando.
Pausenloses Klingeln an der Tür
Die beiden wurden Opfer eines sogenannten Pizzabombings: Cyberkriminelle bestellen Essen im Namen ihrer Ziele und an deren Adressen. Was nach einem harmlosen Streich klingen mag, wird zum Akt der Demütigung. Oft geraten Live-Streamer ins Visier, weil die Täter auf diese Weise dabei zusehen können, wenn es pausenlos an der Tür klingelt und die Betroffenen die Nerven verlieren.
Die Reaktionen laden die Angreifer dann wie Trophäen im Netz hoch. Mit dieser Form des Cybermobbings haben Opfer und Essenslieferanten weltweit zu kämpfen.
Eine gemeinsame Recherche des ARD-Politikmagazins Kontraste und des Spiegel zeigt, dass hinter den Angriffen in Deutschland ein System steckt. Seit Jahren organisiert eine Gruppierung aus Cyberkriminellen auch solche Massenbestellungen. Sie nennt sich "NWO" - unter anderem eine ironisch gemeinte Anspielung auf die Abkürzung für den Verschwörungsmythos einer "Neuen Weltordnung".
Ein riesiger Datensatz ermöglicht einen Einblick in das Innerste dieser Gruppierung. Ein Teil davon wurde den Redaktionen von einer Netzaktivistin zur Verfügung gestellt, die unter dem Namen Nella auftritt und Informationen zu den Kriminellen sammelt. Darunter sind Sprachaufnahmen, in denen Mitglieder der "NWO" mit ihren Aktionen prahlen: "Ich will nicht wissen, wie viele Pizzen ich allein seit Sommer letztem Jahr bestellt habe. … im Sommer ein richtiges 'Pizzageddon' verursacht."
"Pizzerando": Täter arbeiten mit eigener Software
Laut den Aufzeichnungen sollen Angehörige der "NWO" eine Computeranwendung entwickelt haben, die angeblich Massenbestellungen bei "Lieferando" ermöglicht. Der Name des Programms: "Pizzerando".
Dass solche Bestellungen im größeren Stil und automatisiert über Lieferando möglich sind, halten die IT-Sicherheitsfachleute der Gruppe "Zerforschung" für plausibel. Sie haben sich die Programmierschnittstelle des Unternehmens von außen angeschaut.
Opfer machen Lieferdienst Vorwürfe
Im Mai vergangenen Jahres wendet sich Philipp Kotz an Lieferando. "Da dieser Terror ausschließlich durch die missbräuchliche Nutzung Ihres Bestellportals möglich ist, bitte ich dringend um Hilfe", schreibt er. Die Antwort des Unternehmens: Er möge sich an die Polizei wenden.
Anne Kotz ist wütend. Sie fühlt sich nicht ausreichend geschützt: "Du kannst bei Lieferando innerhalb von einer Minute bis zu 100 Bestellungen durchknallen - auf eine Adresse. Es gibt aber angeblich kein System, dass sie deine Adresse sperren können und das kann es meiner Meinung nach nicht sein."
Lieferando: "Wir verhindern die allermeisten Versuche"
Dazu teilte Lieferando Kontraste und dem Spiegel mit, dass Täter das "NWO"-Programm aktuell nicht verwenden könnten, sodass sein Nutzungsumfang extrem eingeschränkt sei. "Durch fortschrittliche Sicherheitssysteme und spezialisierte Teams verhindern wir die allermeisten Versuche" von Pizzabombing, so ein Lieferando-Sprecher.
Zudem arbeite man bei spezifischen Fällen mit den Behörden zusammen und verbessere seine Vorkehrungen fortlaufend. Auch Adresssperrungen seien grundsätzlich möglich.
Aus Unternehmenskreisen heißt es, dass das "Pizzerando"-Programm von Zeit zu Zeit weiterentwickelt werde und dass man dann auch die eigenen Maßnahmen gegen das missbräuchliche Programm erweitere.
"NWO" steckt auch hinter Swatting-Attacken
Mitunter gehen Pizzabombings einher mit Swattings - so nennt man es, wenn Polizei und Feuerwehr durch falsche Notrufe absichtlich zu Unschuldigen geschickt werden. Die Täter melden zum Beispiel ein Gasleck, eine Messerstecherei oder eine Bombe. Auch Anne und Philipp Kotz erzählen, sie seien bereits Opfer von falschen Notrufen geworden.
Die Psychologin Catarina Katzer vergleicht die Attacken der Online-Trolle mit einer Treibjagd. Die Täter seien erst zufrieden, wenn ein Opfer am Boden liege und zermürbt sei. "Wenn zum Beispiel jemand aus seiner Wohnung auszieht oder flüchtet und sich nicht mehr sicher fühlt, dann steigt auch deren Selbstwert, weil sie das Gefühl haben, sie haben Macht."
Bei Anne Kotz hat die dauerhafte Belästigung Spuren hinterlassen. "Es ist anstrengend für die Psyche", sagt sie. Es habe Phasen gegeben, da habe sie das Haus nicht verlassen - aus Angst, überfallen zu werden. So gehe es vielen Opfern, sagt die Psychologin Katzer. Unter Umständen kämpften sie ein Leben lang mit den Folgen der Attacken.
Auch Politiker sind ins Visier geraten
Recherchen von Kontraste und Spiegel zeigten kürzlich, dass auch Politiker Opfer von Swattings durch die "NWO" wurden. Zwei offenbar von der Gruppierung erstellte Listen enthalten Namen und auch Privatanschriften von insgesamt 77 Personen. Fast alle gehören aktuellen oder ehemaligen Landtagsabgeordneten aus Niedersachsen und Rheinland-Pfalz.
Zehn der von Kontraste und Spiegel stichprobenartig Angefragten bestätigen, geswattet worden zu sein. Mindestens eine Politikerin ist offenbar auch Opfer von Pizzabombing geworden - die Wolfsburger Landtagsabgeordnete Cindy Lutz von der CDU
Der Film "Swatting: Die Polizei als Waffe - Wie Cyber-Kriminelle ihre Opfer quälen" ist ab sofort in der ARD-Mediathek zu sehen.