Kontrollen an der Grenze bei Kreuzlingen
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Coronavirus Rechtswidrige Reisebeschränkungen?

Stand: 04.05.2020 18:06 Uhr

Nach Österreich oder Frankreich fahren? Um das Coronavirus einzudämmen, wurde auch das Reisen in die Nachbarländer eingeschränkt. Zu Recht? Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat Bedenken.

Von Michael Stempfle, ARD Berlin

Schlagbäume, Grenzkontrollen, Zurückweisungen. Der europäische Gedanke ist an der deutschen Außengrenze kaum noch zu spüren. Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags formuliert nun "Zweifel" und "Bedenken", ob die Anordnung aus dem Bundesinnenministerium zu den Ausreisebeschränkungen in der Corona-Krise überhaupt rechtmäßig ist. Das achtseitige Papier, das dem ARD-Hauptstadtstudio exklusiv vorliegt, verweist unter anderem darauf, dass die EU-Bürger ein Recht auf Freizügigkeit haben.

Einschränkungen bis zum 15. Mai verlängert

Zum Verständnis: Bundesinnenminister Horst Seehofer hat Mitte März eine Ausreise-Untersagung angeordnet. Bundespolizisten müssten Bürger, die nach Österreich, in die Schweiz, nach Frankreich, Luxemburg und Dänemark fahren wollen, abhalten, wenn sie keinen "triftigen Reisegrund" haben. Erlaubt sind Grenzübertritte demnach nur, um Waren zu transportieren oder um zu pendeln. Auch Flug- und Schiffsreisen nach Italien, Spanien, Österreich, Frankreich, Luxemburg, Dänemark und der Schweiz sind für die meisten Bürger de facto verboten. Diese Regelung hat das Bundesinnenministerium nun vom 4. Mai bis zum 15. Mai 2020 verlängert.

Ungewohnte Grenzkontrollen mitten in der EU

Michael Stempfle, ARD Berlin, Bericht aus Berlin

Die rechtliche Grundlage dafür sind die Paragrafen zehn und sieben aus dem Passgesetz. Die Botschaft - vereinfacht ausgedrückt: Es müsse verhindert werden, dass die "innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet" würden.

Die Wissenschaftler des Bundestags gehen in ihrem Gutachten der Frage nach: Wie groß müsste der Schaden sein, den Reisen in die Nachbarstaaten anrichten könnten, um so weitreichende Beschneidungen der Freiheitsrechte zu rechtfertigen?

Einschränkungen - nur mit guten Gründen

Die Hürden sind offenbar hoch. Es müsste zum Beispiel die "Sicherheit der Einrichtungen des Bundes und der Länder" betroffen sein oder auch "die Amtsführung ihrer Organe, das friedliche und freie Zusammenleben der Bewohner sowie die Sicherheit lebenswichtiger Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen". Dafür nennt das Gutachten ein Beispiel: Ein "kollabierendes Gesundheitssystem" in Deutschland etwa hätte durchaus "dramatische Folgen", nämlich eine "erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit".

Allerdings heißt es im Gutachten, dass von der Ausreise aus dem Bundesgebiet unmittelbar "keine Gefahr für das deutsche Gesundheitssystem" ausgehe. Dabei haben die Gutachter in Erwägung gezogen, dass die Bürger nach einem Urlaub wieder einreisen. Zwar gingen von Urlaubsreisen in Infektionsgebiete "besondere Gefahren" aus. Mittlerweile sei aber zu beobachten, dass "das öffentliche Leben insbesondere in den von der Ausreiseuntersagung betroffenen Ländern massiv eingeschränkt" sei. So hätten Restaurants geschlossen. Die Situation habe sich also stark verändert.

Risiken für Rückholaktionen ausreichend?

Auch die Sorge vor möglichen hohen finanziellen Kosten scheinen die Wissenschaftler nicht so recht zu überzeugen. So sei rechtlich nicht klar geregelt, ob die Sorge vor erneuten kostspieligen Rückholaktionen aus dem Ausland ausreiche, um die Ausreisen von vornherein zu untersagen. Unklar sei auch, wie hoch das finanzielle Risiko derzeit überhaupt konkret einzuschätzen sei.

Selbst politische Argumente, die das Recht auf Freizügigkeit in der EU einschränken könnten, lässt das Gutachten kaum gelten, wie zum Beispiel die Gefährdung des internationalen Ansehens. Das weniger restriktive Vorgehen in Schweden zeige, dass es "zu keiner erheblichen Beeinträchtigung der auswärtigen Beziehungen und des internationalen Ansehens geführt" habe.

Ausreiseverbote gab es früher nur in Einzelfällen

Ulla Jelpke, innenpolitischer Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, hatte das Gutachten in Auftrag gegeben. Sie verstehe zwar, dass die Verbreitung der Corona-Pandemie einzuschränken sei, es dürfe aber nicht geltendes Recht missachtet werden. "Solche Ausreiseverbote haben sich bislang immer nur auf Einzelpersonen bezogen, denen irgendwelche konkreten Verhaltensweisen vorgeworden wurden, aus denen sich eine Gefährdung deutscher Interessen ergebe." Damit bezieht sie sich auf das Gutachten, in dem es heißt, dass es bislang Ausreiseverbote für Hooligans oder gewaltbereite Islamisten gegeben habe.

Kritik selbst aus der Union

Kritik kommt sogar aus Seehofers Unions-Fraktion: Jeden Tag würden wegen der Einreisebeschränkungen "Familien zerschnitten, Pendler behindert und jetzt auch Schulwege blockiert", sagt Andreas Jung, Bundestagsabgeordneter aus Baden-Württemberg. "Zum Gesundheitsschutz sind die Sperren nicht mehr geboten, aber sie widersprechen eklatant der gemeinsamen Lebenswirklichkeit unserer Grenzregionen".

Zweifel formuliert auch das Wissenschaftliche Gutachten des Bundestags: Es bestünden "rechtliche und tatsächliche Bedenken", dass sich eine allgemeine Ausreiseuntersagung für Reisen ohne triftigen Grund auf die vom Innenministerium genannte Rechtsgrundlage stützen lässt.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete "Bericht aus Berlin" am 03. Mai 2020 um 18:05 Uhr.