Gezeichnetes Bild eines älteren Menschen, der beim Notar eine Vorsorgevollmacht zugunsten einer Erbschleicherin ausstellt.
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Ausplünderung von Senioren Keine Strafen für Erbschleicherei

Stand: 25.07.2022 19:22 Uhr

Skrupellose Ausbeuter täuschen Fürsorge vor, isolieren betagte Menschen und erschleichen sich deren Vermögen. Recherchen von Report Mainz zeigen: Es geht um riesige Summen. Experten fordern von der Politik Gegenmaßnahmen.

Am 12. März 2020 entdecken Ermittler des Landeskriminalamtes Berlin die Leiche des 84-jährigen Klaus Jesse im Flur eines Hauses in Berlin-Lichtenrade. Schnell ist klar: Er wurde brutal getötet. Seine Tochter Sabine Haupt hatte gleich nach der Tat einen Verdacht: "Für mich war sofort klar, dass Frau Nerma das gewesen ist."

Nerma war als Pflegerin für die kranke Frau des Vaters in den Haushalt gekommen. Nach deren Tod habe Nerma dann den Vater zunehmend vereinnahmt. Die Frau, die es immer vermieden hatte, fotografiert zu werden, war Ende 50 und "sehr attraktiv". Und das habe bei dem über 80-jährigen Jesse gewirkt. "Ich glaube, dass er sich verliebt hatte."

Sabine Haupt.

Sabine Haupt hatte sofort die Erbschleicherin als Täterin im Verdacht.

Eine Unterschrift ist der Schlüssel zum Vermögen

Schon zwei Monate nach dem Tod seiner Ehefrau erteilt Jesse Pflegerin Nerma eine Generalvollmacht. Mit einer Unterschrift hatte sie Zugriff auf sein gesamtes Vermögen. Dazu gehörte auch das Elternhaus von Sabine Haupt.

Dort habe Nerma begonnen, ihren Vater zu isolieren, keinen Kontakt mehr zur Familie zugelassen. Sie erzählt uns: "2018 stand ich mehrfach vor dem Haus und habe geklingelt, doch es hat keiner aufgemacht." Eineinhalb Jahre lang habe sie den Vater nicht gesehen. Später habe sie erfahren, dass Nerma dafür gesorgt hatte, dass das Haus verkauft wird: "Sie hat gesagt, sie hätte keine Lust, sich mit den Erben herumzuschlagen. Sie will was Eigenes."

Keine fünf Minuten Autofahrt entfernt hatte Nerma von dem Geld des Vaters ein Haus gekauft - und zwar auf ihren Namen. Jesse hatte dort nur ein Wohnrecht.

Erst Monate danach erkennt der Vater, dass er ausgebeutet wurde - nahm wieder Kontakt mit seiner Tochter auf, erzählte ihr von vielen Schikanen: körperlichen Angriffen, Beschimpfungen und Drohungen. "Er hatte am Schluss richtig Todesangst", sagt sie.

Klassischer Fall von Erbschleicherei

Die Tochter rät ihm, beim LKA Berlin Anzeige zu erstatten. Kriminalhauptkommissarin Annett Mau ist hier spezialisiert auf finanzielle Ausbeutung älterer Menschen. Sie kümmert sich um Jesse. Für sie ein klassischer Fall von Erbschleicherei: "Die Täterin hat das gemacht, was wir das klassische Muster nennen. Sie hat sich angeboten. Sie hat tatsächlich Hilfe geleistet - kurzfristig. Danach hat sie sofort die Fassade fallenlassen, hat versucht, ihn aus dem Haus zu drängen, weil das Haus mit dem Wohnrecht belastet war, wollte ihn loswerden."

Kriminalhauptkommissarin Annett Mau, LKA Berlin.

Fühlt sich angesichts der Rechtslage bei der Strafverfolgung vom Gesetzgeber im Stich gelassen: Annett Mau.

Und ihre Ermittlungen zeigen: Jesse ist nicht das einzige Opfer von Nerma. "Wir konnten rekonstruieren, dass sie das in vielen Fällen schon getan hat. Sie ist eine absolute klassische Wiederholungstäterin," sagt die Kommissarin.

Obwohl die Polizei bereits ermittelt, kommt für Klaus Jesse jede Hilfe zu spät. Am 10. März 2020 geht Nerma zu Klaus Jesse. In der Hand hat sie einen stockähnlichen Gegenstand. Damit schlägt sie dem alten Mann mehrfach auf den Kopf und boxt ihm massiv mit der Faust auf die Brust. Er bricht zusammen und bleibt in einer Blutlache im Flur liegen. Diesen Tatablauf rekonstruiert die Polizei später.

Sieben Monate später verurteilt das Landgericht Berlin Nerma für diese Tat zu 9,5 Jahren Haft. Sie schweigt in dem Verfahren und auch die Anfrage von Report Mainz beantwortet sie nicht.

Kommissarin Mau sagt, sie berühre es, dass sie Jesse nicht schützen konnte: "Das trifft mich. Denn ich will helfen, ich will schützen. Aber das geht nicht, nicht mit dieser Rechtslage." Erbschleicherei sei noch nie strafbewehrt gewesen, und damit sei sie im Umkehrschluss legal.

Eine Änderung der Rechtslage fordert auch Claudia Mahler, Expertin des UN-Menschenrechtsrates für die Belange älterer Menschen. Andere Länder schützten ihre Senioren deutlich besser: "In den USA ist es so geregelt, wenn das Vertrauen erschlichen wurde, mit Gefühlen gespielt wurde oder Zwang dahintersteht, dass ich das Geschäft rückabwickeln kann, beziehungsweise die Vollmacht zurücknehmen kann." "Undue Influence" - unangemessene Beeinflussung - heißt das Rechtsinstitut dort. In Deutschland ist dies nicht möglich.

Politik fordert mehr Schutz für ältere Menschen

Vor zwei Jahren hatte sich die FDP massiv für den Schutz älterer Menschen vor finanzieller Ausbeutung eingesetzt, damals noch in der Opposition. In zwei kleinen Anfragen an die Bundesregierung und einem Antrag im Bundestag forderte der jetzige Bundesjustizminister Marco Buschmann gemeinsam mit der FDP-Fraktion unter anderem ein Maßnahmenpaket gegen finanzielle Ausbeutung älterer Menschen. Dieser Antrag wurde damals vom Bundestag abgelehnt.

Dabei ist das Thema inzwischen auch in anderen Teilen der Politik angekommen: Die Justizministerkonferenz der Länder hat im Herbst das Bundesjustizministerium aufgefordert zu prüfen, ob "strafgesetzgeberischer Änderungsbedarf" notwendig sei. Der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU) kritisiert, in der jetzigen gültigen Rechtslage gebe es "die Schutzlücken im Bereich der Strafverfolgung sowie auch beim Missbrauch von Vorsorgevollmachten." Und diese Schutzlücken müssten geschlossen werden, fordert er.

Auch im Koalitionsvertrag sind sich die Ampelparteien noch einig: "Wir werden ältere Menschen vor Diskriminierung und vor finanzieller Ausbeutung - insbesondere durch Vorsorgevollmachten - schützen."

Justizminister sieht keinen Handlungsbedarf

Doch als Justizminister erteilt Buschmann dem Schutz älterer Menschen eine klare Absage. Auf Anfrage von Report Mainz erklärt sein Ministerium: "Die Prüfung hat ergeben, dass es keiner strafgesetzgeberischen Änderungen bedarf. Das Strafgesetzbuch enthält bereits hinreichende Möglichkeiten zur angemessenen Ahndung von Eigentums- und Vermögensdelikten zum Nachteil älterer Menschen."

Diese klare Absage kritisiert der bayerische Justizminister: "Ich kann die Absage nicht nachvollziehen, weder das Ergebnis noch die Begründung überzeugt mich."

Auch LKA-Kommissarin Mau hat für diese Entscheidung kein Verständnis: "Wir kriegen aus dem gesamten Bundesrepublik Anrufe von verzweifelten Angehörigen und von Betroffenen selbst. Und allen muss ich im Grunde sagen: Ich kann ihnen nicht helfen."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Report Mainz am 26. Juli 2022 um 23:15 Uhr im Ersten.