Ein Ordner mit dem Emblem des sogenannten "Königreichs Deutschland".
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"Reichsbürger" Kinder unter dem Radar 

Stand: 07.06.2024 12:03 Uhr

In Deutschland leben Kinder, die es offiziell nicht gibt. Sie haben keine Geburtsurkunde, wie BR-Recherchen ergaben. Ihre Eltern gehören der "Reichsbürger"-Szene an, die den Staat und seine Rechtsform radikal ablehnt.

Von BR-Recherche

Sie habe ihre Tochter nicht beim Standesamt angemeldet, erzählt eine Anhängerin des "Königreichs Deutschland" in einem Video auf einer Webseite der Gruppierung. Für ein "glückliches", "freies", "natürliches Aufwachsen" sei es völlig unwichtig, ob das Kind eine Geburtsurkunde habe oder nicht. Die Mutter sieht es als Vorteil, dass das Kind dadurch auch "zu keiner Untersuchung musste". Die Eltern, die in Thüringen leben, kamen laut Medienberichten auch der Schulpflicht nicht nach, bis Nachbarn Behörden auf die Existenz des Mädchens aufmerksam gemacht haben.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz bezeichnet das "Königreich Deutschland" als "sektiererische Gemeinschaft", als "Fantasiestaat". Die extremistische Gruppierung zählt laut Verfassungsschutz zu den mitgliederstärksten Gruppierungen in der "Reichsbürger"- und "Selbstverwalter"-Szene. Nach eigenen Angaben hat das "Königreich Deutschland" derzeit mehr als 6.000 Mitglieder.

Aktuell finden nach BR-Recherchen vielerorts Veranstaltungen statt, um neue Anhängerinnen und Anhänger zu rekrutieren. Selbsterklärtes Ziel der Gruppierung ist es, alternative staatliche Strukturen zu schaffen - mit eigener Verfassung und eigenem Geldsystem.

Verfassungsschutz: "Wir müssen hinschauen"

Das Mädchen aus Thüringen ist nach BR-Recherchen nicht das einzige Kind, das unter dem Radar staatlicher Einrichtungen lebte. "Selbst wenn es nur zwei Kinder sind, wäre es für mich ein nennenswertes Problem", sagt der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, im BR-Interview. Konkrete Zahlen könne er nicht nennen, aber: In Thüringen seien "Reichsbürger"-Familien im unteren zweistelligen Bereich bekannt, bei denen die Indoktrination von Kindern eine Rolle spiele.

Das sei allerdings nur das Hellfeld, so der Verfassungsschützer. "Das ist etwas, wo wir nicht wegschauen dürfen, sondern wo wir hinschauen müssen", sagt Kramer. Er selbst sei viel in den Kommunen unterwegs und kläre Behörden wie Jugendämter über das Phänomen auf.

Frühe Indoktrination von Kindern

Im Zuge der Recherchen für ein ARD-Radiofeature hat der Bayerische Rundfunk die Landesämter für Verfassungsschutz zum Thema befragt. Elf Ämter haben bis Redaktionsschluss geantwortet. Die meisten hatten bereits mit dem Phänomen "Reichsbürger-Familien" zu tun.

Dem Landesamt für Verfassungsschutz in Niedersachsen sind Einzelfälle bekannt, in denen sich "Reichsbürger" der Ausstellung von Geburtsdokumenten durch die Standesämter entziehen wollten. Andere Ämter wie Bayern und Sachsen gehen davon aus, dass es zu solchen Fällen kommt. Außerdem versuchten "Reichsbürger", die Ausweisdokumente der Kinder wieder abzugeben, heißt es vom Landesamt für Verfassungsschutz Rheinland-Pfalz.

Das Landesamt für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg schreibt, Kinder würden bereits früh ideologisch indoktriniert. Der Behörde liegen zum Beispiel Schreiben vor, "die im Namen der Kinder bekannter Milieuangehöriger ausgestellt und teilweise auch von diesen unterzeichnet wurden".

Etliche Verfassungsschutzbehörden berichten von Fällen, in denen "Reichsbürger" versuchen, ihre Kinder der Schulpflicht zu entziehen. In Hessen beobachtet der Verfassungsschutz Versuche in der "Reichsbürger"-Szene "mit Sorge", alternative Bildungseinrichtungen zu schaffen.

Werbung für Hausgeburten

Mit Themen wie "Bildung" oder "Kinder" werben "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" um neue Anhänger. Nach BR-Recherchen wird in einschlägigen Telegram-Kanälen mit Zehntausenden Abonnenten explizit dafür geworben, Kinder staatlichen Institutionen zu entziehen. "Wenn man das Baby durch Hausgeburt bekommt - ALLEIN - und es NICHT auf Standesamt zur Anzeige bringt", heißt es in einem Kanal der reichsbürgernahen QAnon-Verschwörungsideologie, "dann gibt es dieses Kind nicht". Es sei ein freier Mensch.

"Frei", weil gemäß der Verschwörungsideologie von Teilen der "Reichsbürger"-Szene die Bundesrepublik Deutschland gar nicht existiere, sondern eine Firma sei. Mit der Geburtsurkunde zwinge die "Firma BRD" die Menschen in eine Art Vertrag. Damit würden sie alle Rechte abgeben - beschreibt Verena Fiebig die Ansichten. Sie ist Wissenschaftlerin am Kompetenzzentrum gegen Extremismus in Baden-Württemberg und forscht zu "Reichsbürgern" und "Selbstverwaltern".

"Über dieses Dokument der Geburtsurkunde treten wir aus Sicht der 'Reichsbürger' und 'Reichsbürgerinnen' in den Sklavenstatus ein", so Fiebig. Aus ideologischer Perspektive sei es plausibel, dass "Reichsbürger"-Eltern versuchten, dieses Dokument für ihre Kinder zu umgehen.

Trend geht nach oben

Wenn Kinder systematisch abgeschottet werden - etwa durch alternative Lerngruppen oder Bildungseinrichtungen, sei man aus wissenschaftlicher Perspektive schnell im Bereich der Kindeswohlgefährdung, sagt die Extremismusforscherin. Denn den Kindern würden Bildungschancen verweigert und sie lebten isoliert.

Der Aufbau paralleler Strukturen sei auch aus der rechtsextremen Szene bekannt, sagt Verfassungsschützer Kramer - und gut durchdacht. "Man schafft die nächsten Generationen, die dann gleich auf Linie gebracht sind und gar nicht erst in Berührung gekommen sind mit einer freiheitlich demokratischen Grundordnung, einem Grundgesetz, Menschen- und Bürgerrechten."

Laut Bundesverfassungsschutz gibt es etwa 23.000 "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" in Deutschland (Stand 2022). Landesbehörden zufolge leben etwa 1.000 von ihnen in Thüringen, etwa 5.400 in Bayern. In Sachsen werden 3.000 Menschen der Szene zugerechnet. Der Resonanzraum der Reichsbürger ist jedoch deutlich größer: Einer repräsentativen Umfrage der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung zufolge zeigen fünf Prozent der Deutschen eine Nähe zu "Reichsbürger"-Gedankengut. Experten sind sich einig: Der Trend geht nach oben.

Hilfe und Beratung
 
Wer fachliche Beratung zum Thema Extremismus sucht, kann sich zum Beispiel bei der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus melden: BIGE - Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus. In Bremen gibt es das Kompetenzzentrum für Deradikalisierung und Extremismusprävention im Land Bremen. Auch in Baden-Württemberg: Kompetenzzentrum gegen Extremismus in Baden-Württemberg. Wer Hinweise zum Thema "Kinder in der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene" hat, kann sich per Mail an das Investigativteam des Bayerischen Rundfunks wenden: brrecherche@br.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete BR24 am 07. Juni 2024 um 12:03 Uhr.