Mediziner über Corona-Sonderweg "In Schwedens Kliniken gab es keine Engpässe"
Schweden hat sich für weniger strengere Corona-Maßnahmen entschieden und musste verhältnismäßig hohe Todeszahlen in Kauf nehmen. War der Weg also falsch? So einfach ist es nicht, sagt der in Schweden arbeitende Mediziner Jan Gebel.
tagesschau.de: Sie arbeiten in der Notfallaufnahme der Uni-Klinik in Lund. Wie ist ihr Alltag in der Corona-Krise?
Jan Gebel: Wir haben recht früh damit begonnen, die Verdachtsfälle zu isolieren. Diesen Teil der Notaufnahme nennen wir die "gelbe Zone". Wir haben täglich insgesamt 100 bis 150 Patienten pro Tag in der Notaufnahme, wovon durchschnittlich 30 bis 40 als Verdachtsfälle isoliert werden. Zum Glück verliefen die meisten Erkrankungen eher mild. Ich selber habe bisher nur einen älteren Patienten aufgenommen, der schon sehr geschwächt bei uns ankam und dann kurz danach gestorben ist.
tagesschau.de: Gab es denn zu irgendeinem Zeitpunkt Engpässe in Ihrem Krankenhaus, dass Patienten nicht ausreichend behandelt werden konnten?
Gebel: Nein, die gab es nicht. Übrigens auch nicht in ganz Schweden. Es ist außerdem nicht richtig, dass es hier eine Altersgrenze gibt, ab wann etwa eine Beatmung nicht mehr vorgenommen wird. Es ist auch bei uns immer eine Einzelfallentscheidung. Eine Beatmung ist ein schwerer Eingriff. Auch wenn es gut geht, nimmt man den Tubus nicht einfach raus und der Patient verlässt dann pfeifend das Krankenhaus. Man verliert durch die Beatmung, die bei Covid-19-Patienten relativ lange dauert, sehr schnell an Muskelmasse. Das muss alles wieder aufgebaut werden. Ein sehr alter Mensch schafft das eventuell nicht mehr. Da kann es sein, dass jemand über 80 mit mehreren Vorerkrankungen nicht mehr beatmet wird. Das entscheidet sich aber von Fall zu Fall. Außerdem gab es in ganz Schweden stets 20 Prozent Zusatzkapazitäten, die nicht gebraucht wurden. Ein extra aufgebautes Feldkrankenhaus in Stockholm musste beispielsweise nie in Betrieb genommen werden.
tagesschau.de: Schweden ist ja bewusst einen anderen Weg gegangen bei der Eindämmung des Virus, hat sich das denn gar nicht auf Ihren Arbeitsalltag ausgewirkt?
Gebel: Nein. Der schwedische Sonderweg hat uns jetzt nicht medizinisch irgendwie reingeritten, obwohl regional die Belastung sehr unterschiedlich war. Wir haben schon sehr früh verstanden, womit wir es zu tun haben und auch entsprechend reagiert. Es ist tragisch, dass so viele Leute vor allem in der Region Stockholm, gestorben sind. Leider sehr viele in Pflegeheimen. Die Situation unterscheidet sich doch etwas von der unsrigen in Südschweden.
tagesschau.de: Inwiefern?
Gebel: In Stockholm gab es ein großes Infektionsgeschehen in der Bevölkerung. Dort hätte man eventuell früher mehr und aggressiver testen sollen. Man hätte mehr die Ansteckungsketten zurückverfolgen und dann gezielt die betreffenden Gruppen isolieren müssen. Das Virus hat sich möglicherweise auch über die somalisch-schwedische Community in Stockholm, deren Angehörige häufig in Pflegeberufen oder als Putzkraft arbeiten, in den Altenpflegeheimen verbreitet. Dort gab es überproportional viele Opfer. Man muss aber sagen, dass das offiziell noch nicht bestätigt worden ist.
tagesschau.de: Wie empfinden Sie den Alltag in Schweden? Nimmt die Bevölkerung das Virus noch ernst?
Gebel: Auf jeden Fall. Auch hier gab es Regeln, an die sich die meisten gehalten haben. Viele haben sich Sorgen gemacht. Ich kenne aber die Bilder von den unbekümmerten Schweden. Da war vielleicht auch ein bisschen Framing dabei. Das trifft wirklich nicht zu, soweit ich das beurteilen kann. Es wird schon Abstand gehalten. Daten des schwedischen Mobilfunkanbieters Telia haben auch ergeben, dass die Mobilität um 90 Prozent zurückgegangen war. Klar, jetzt gibt es einige Ermüdungserscheinungen, ähnlich wie in Deutschland. Schlauchbootpartys wie in Berlin gab es hier aber nicht (lacht).
tagesschau.de: Gibt es keine Maskenpflicht?
Gebel: Nein, die gibt es nicht. Das verstehe ich auch nicht so recht. Das ließe sich ja einfach durchsetzen und ich glaube, dass die Menschen in Schweden auch da mitgehen würden. Einige, vor allem im Personennahverkehr, tragen auch jetzt schon eine Maske.
tagesschau.de: Gretchenfrage: War der Sonderweg dann im Ergebnis richtig?
Gebel: Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Es war zumindest für meine Region nicht grundsätzlich falsch. Man muss vielleicht auch noch bedenken, dass das Institut, das man wohl mit dem deutschen Robert Koch-Institut vergleichen kann, eine Volksgesundheitsbehörde ist. Die schauen nicht nur auf das blanke Infektionsgeschehen. Die gucken sich auch an, welche Auswirkungen einzelne Maßnahmen auch auf die soziale Situation haben kann. Das mag bei der Entscheidung, etwa Schulen offen zu lassen, auch eine Rolle gespielt haben. Als Vater von drei Kindern bin ich froh, in Schweden zu leben. Es ist auch nicht so, dass es in den Schulen nämlich gar keine Regeln gab.
Die Stadt Lund liegt im Süden von Schweden 600 Kilometer von Stockholm entfernt. "Der schwedische Sonderweg hat uns hier nicht medizinisch reingeritten", so Gebel.
tagesschau.de: Gibt es eine Grenze für diesen Sonderweg?
Gebel: Das kann ich nicht wirklich bewerten. Aber natürlich muss man das überdenken, wenn die Infektionen stark ansteigen und die Kontrolle wegrutscht. Aber das haben wir zum Glück nicht.
Das Gespräch führte Iris Marx, tagesschau.de