Interview

Pakistan-Experte zu WikiLeaks "Es geht um die Bloßstellung politischer Praktiken"

Stand: 01.12.2010 17:31 Uhr

WikiLeaks hat nachgelegt: Veröffentlicht wurden Depeschen von US-Botschaftern in Pakistan. Allerdings: Neu war das Ganze nicht. WikiLeaks gehe es offenbar vielmehr um die Bloßstellung bestimmter politischer Praktiken, sagt der Pakistan-Experte Boris Wilke im Interview mit tagesschau.de.

tagesschau.de: Seit einigen Tagen enthüllt WikiLeaks nach und nach geheime Depeschen von US-Botschaftern, aktuell ist Pakistan Thema. Haben Sie die Veröffentlichungen über das Land überrascht?

Boris Wilke: Mich hat weder überrascht, dass es Veröffentlichungen über das Land und seine Beziehungen zu den USA gab, noch haben mich die mir bisher vorliegenden Inhalte überrascht. Es ist sicherlich die eine oder andere Information dabei, die der breiteren Öffentlichkeit nicht so bekannt ist. Aber für die, die sich mit dem Land befassen oder dort leben und arbeiten, war bis jetzt nicht viel Neues dabei.

Zur Person

Boris Wilke, Jahrgang 1969, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Er befasst sich seit 15 Jahren mit der Politik, Geschichte und Kultur Pakistans und hat das Land mehrfach bereist.

tagesschau.de: Nicht viel Neues – heißt das, die Veröffentlichungen haben doch etwas enthalten, was Sie noch nicht wussten?

Wilke: Dass Präsident Asif Ali Zardari laut der Berichte vermutet hat, Opfer einer Intrige zu sein - das hatte ich noch nicht gehört. Aber das ist auch keine überraschende Information in einem Land wie Pakistan, in dem politische Umstürze und Militärputsche in der Vergangenheit häufiger vorkamen.

tagesschau.de: Für wie wahrscheinlich halten sie Zardaris beschriebene Befürchtungen, Opfer eines Sturzes oder einer Ermordung zu sein?

Wilke: Dass er ermordet wird, halte ich für unwahrscheinlich. Ein Sturz ist nie ganz auszuschließen. Aber ich sehe da niemanden, der so etwas planen könnte. Es gibt eine große Opposition, die gesamte Medienöffentlichkeit sieht ihn sehr kritisch, und es stellt sich auch die Frage, ob seine Partei dauerhaft die Mehrheit im Parlament halten kann – das sind alles reale Gefahren. Über diese hinaus sehe ich nicht, dass das pakistanische Militär geneigt wäre, gewaltsam die Regierungsgeschäfte an sich zu reißen.

"Der starke Mann im Land ist der Armeechef"

tagesschau.de: Auch beim Geheimdienst nicht, der laut der WikiLeaks-Berichte eine Intrige gegen Zardari spinnen wollte?

Wilke: Die innenpolitische Rolle des Geheimdienstes wird häufig falsch verstanden und überschätzt. Der Geheimdienst operiert nicht unabhängig vom Militär. Und der eigentlich starke Mann im Land ist der Armeechef Ashfaq Kayani bereits. Das zeigt sich auch daran, dass er zu internationalen Konsultationen hinzugezogen wird. Und wenn man schon so weit ist wie er, dann hat man kaum Grund, die Regierung zu stürzen.

tagesschau.de: Jetzt ist auch sehr viel über die Beziehung zwischen Pakistan und den USA veröffentlicht worden. So scheint die US-Regierung machtlos zu sein in ihrem Bestreben, die Kontrolle über die pakistanischen Atomwaffen zu bekommen. Ist das so?

Wilke: Es ist richtig, dass sich die pakistanischen Nuklearwaffen unter der Kontrolle des pakistanischen Militärs befinden, und nicht unter Kontrolle der US-Regierung. Man kann sicherlich politisch einiges tun, um ihren Einsatz weitgehend auszuschließen. Aber die Chance, von außen eine 100-prozentige Kontrolle über die Waffen zu erlangen, sehe ich nicht.

tagesschau.de: Wenn jetzt all die veröffentlichten Informationen über Pakistan eigentlich gar nicht so neu sind, warum hat Wikileaks sie trotzdem herausgegeben?

Wilke: Auch wenn wir über Pakistan hinausgehen, handelt es sich bei den Veröffentlichungen ja offenbar allesamt um Tatsachen, von denen man zumindest vermuten konnte, dass sie in der Welt sind - man hatte bloß keinen Beweis. Ob diplomatische Depeschen allerdings diesen Beweis liefern, ist fraglich. Ich denke, es geht WikiLeaks weniger um das Aufdecken politischer Geheimnisse als um die Bloßstellung bestimmter politischer Praktiken seitens der international führenden Staatsmänner und -frauen. Diese sind den Machern von WikiLeaks offenbar ein Dorn im Auge, und sie versuchen die Frage auf die Tagesordnung zu bringen, ob diese Art von Diplomatie und geheimen Absprachen heute noch angemessen ist.

tagesschau.de: Was verspricht sich WikiLeaks ihrer Ansicht nach davon?

Wilke: Eine Mobilisierung der Weltöffentlichkeit - es wird ja fleißig darüber diskutiert - und natürlich Publicity für das eigene Projekt.

Das Interview führte Sonja Stamm, tagesschau.de.