100 Jahre Weimarer Reichsverfassung "Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit"
Die Weimarer Verfassung wird heute 100 Jahre alt. Der Historiker Jörn Leonhard erklärt im tagesschau.de-Interview, wieviel davon noch im Grundgesetz steckt und warum auch unsere Demokratie angreifbar ist.
tagesschau.de: Am 6. Februar 1919 trat die deutsche Nationalversammlung erstmals in Weimar zusammen, um der jungen Republik eine Verfassung zu geben. Doch der Friede währte nicht allzu lange. Die Weimarer Republik mündete in die Nazi-Diktatur, die Verfassung ist letztlich gescheitert. Ist der 100. Jahrestag dennoch ein Grund zu feiern?
Jörn Leonhard: Ich finde, ja. Denn wir dürfen die Weimarer Reichsverfassung von 1919 nicht allein von 1933 aus beurteilen, sondern müssen auch die großen Leistungen dieser Verfassung aus dem Kontext von 1919 würdigen. Etwa die Tatsache, dass sie überhaupt erst einmal den Rahmen für die neue Demokratie und das parlamentarische System schuf - und das unter dem Eindruck eines möglichen Bürgerkriegs und der Unsicherheit hinsichtlich der künftigen Friedensbemühungen.
Jörn Leonhard ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas an der Universität Freiburg. Für seine Forschungen hat er zahlreiche Preise gewonnen. Zuletzt ist von ihm das Buch "Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt. 1918 - 1923" erschienen.
Entscheidend ist ja nicht allein, welche konkreten Artikel eine Verfassung enthält, sondern wie Menschen damit Politik gestalten. Das kann man am Beispiel des berühmt berüchtigten Artikels 48 gut beobachten, der dem Reichspräsidenten besondere Vollmachten in Krisensituationen gewährte.
Friedrich Ebert nutzte dieses Notverordnungsrecht als Reichspräsident von 1923, das mit der Hyperinflation und der Ruhrbesetzung zum Krisenjahr der jungen Republik wurde, bis 1925 über 100 mal, um die Republik zu verteidigen. Den gleichen Artikel setzte Paul von Hindenburg, der zweite Reichspräsident, seit dem Ende der 1920er-Jahre ein, um die Macht des Parlaments durch von ihm berufene Präsidialkabinette auszuhöhlen. Nicht der Text der Verfassung wurde ein entscheidender Faktor, sondern der Umgang verantwortlicher politischer Akteure mit ihr.
Sozialstaatlichkeit, Gewerkschaften, Acht-Stunden-Tag
tagesschau.de: Welche bleibende Bedeutung hat diese Verfassung?
Leonhard: Sie hat die Basis für die erste parlamentarische Demokratie in Deutschland geschaffen, sie vermittelte der neuen Republik ein Gehäuse, dem die Menschen nach den vielen Umbrüchen vertrauen sollten. Dazu gehörte die Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative, das Bekenntnis zu den Grundrechten und zum Sozialstaat. Nach dem Krieg wurden die Gewerkschaften offiziell anerkannt und der Acht-Stunden-Tag eingeführt.
Nach der militärischen Niederlage des Ersten Weltkriegs und der Revolution von 1918 entstand die erste parlamentarische Regierung der deutschen Geschichte. Das neue demokratische System der Weimarer Republik fußte auf der Weimarer Reichsverfassung, die am 31. Juli 1919 von der Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Die Weimarer Verfassung bildete ein tragfähiges Fundament für den Aufbau eines föderalistischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Ihre strukturellen Schwächen ermöglichten letztlich jedoch die Nazi-Diktatur.
tagesschau.de: Wieviel von dieser Weimarer Reichsverfassung steckt noch in unserem Grundgesetz?
Leonhard: Es gibt sehr deutliche Kontinuitätslinien. Etwa die bundesstaatliche Ordnung, also das Verhältnis zwischen dem Reich und den einzelnen Ländern 1919. Das wurde in der föderalen Struktur der Bundesrepublik fortgeschrieben und zwar mit größerer Betonung der Bundesländer im Bundesrat. Auch die Prinzipien von Sozialstaatlichkeit und die Rechtsstaatlichkeit Deutschlands sowie die Grundrechte gehören zu diesem Erbe.
Lehren aus der Weimarer Reichsverfassung
tagesschau.de: Andererseits haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes auch aus den Schwächen der Weimarer Reichsverfassung gelernt. Wo im Grundgesetz erkennt man das?
Leonhard: Beispielsweise wurden die Kompetenzen des Reichspräsidenten nicht auf den Bundespräsidenten übertragen. Der Bundespräsident wird - anders als der Reichspräsident in der Weimarer Republik - nicht direkt gewählt, sondern von der Bundesversammlung. Er besitzt kein Notverordnungsrecht, wie das in Artikel 48 der Reichsverfassung festgelegt worden war, und seine Kompetenzen sind insgesamt beschränkter.
Dagegen stärkte das Grundgesetz den Kanzler und erschwerte eine Auflösung des Parlaments. Auch die Stärkung des Bundesrats und die besondere Rolle des Bundesverfassungsgerichts spiegelten den Versuch wider, 'Bonn' nicht 'Weimar' werden zu lassen. Das war eine Lehre aus der Erfahrung mit der Rolle Hindenburgs und der Krise des Parlamentarismus am Ende der Weimarer Republik.
In diesem Zusammenhang stand auch die Einführung der Fünf-Prozent-Hürde, um eine Zersplitterung des Parteiensystems zu verhindern, die man in Weimar zu erkennen glaubte. Allerdings hätte auch die Fünf-Prozent-Hürde den Aufstieg der Nationalsozialisten nicht verhindern können. Die meisten Stimmen entfielen in der Weimarer Republik auf fünf bis sechs Parteien.
Am 6. Februar 1919 tritt die Verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung in Weimar erstmalig zusammen.
"Viele andere Staaten haben sich daran orientiert"
tagesschau.de: Welche Lehre ziehen Sie im Hinblick auf die aktuelle politische Situation - das Erstarken der Rechtspopulisten - in Deutschland? Ist unsere Demokratie durch das Grundgesetz ausreichend geschützt?
Leonhard: Das Grundgesetz ist eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte, mit dem wir aus historischer Sicht seit 1949 sehr gut gefahren sind. Viele andere Staaten der Welt haben sich daran orientiert. Andererseits kann man im Blick auf Weimar lernen, dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist - und das gilt auch für die Gegenwart. Die Tatsache, dass das Grundgesetz über viele Jahrzehnte sehr erfolgreich gewirkt hat und von den Deutschen als eine ausgezeichnete Verfassung angenommen wurde, ist jedenfalls keine Garantie dafür, dass diese Demokratie nicht auch Gefahren ausgesetzt ist.
Vor allem dürfen wir eine Verfassung nicht überstrapazieren. Die beste Verfassung nutzt nichts, wenn sich Menschen von der Demokratie als Prinzip abwenden und das Vertrauen in sie verlieren. Eine Verfassung existiert niemals im luftleeren Raum - zu ihrer Wirksamkeit gehören das konkrete Handeln von Politikern, die politische Kultur der Bürger, der öffentliche Raum. Angesichts der gegenwärtigen Umbrüche im Parteiensystem und des Erfolgs antidemokratischer Modelle außerhalb Deutschlands kann man durch den Blick auf die Phase nach 1918 viel genauer erkennen, wo die Chancen, aber eben auch die Gefährdungen der Demokratie liegen.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.